# taz.de -- Umstrittene Heimbetreuung: Zur Strafe kein Besuch zuhause | |
> Hamburg schiebt massiv betreuungsbedürftige Kinder in andere Bundesländer | |
> ab. Viele der dortigen Einrichtungen nutzen repressive Methoden. | |
Bild: Wird teils ersatzlos gestrichen: Wochenendbesuch zu Hause. | |
HAMBURG taz | Erst mal blieb die Frage unbeantwortet. Als die | |
FDP-Abgeordnete Anita Klahn im Sommer wissen wollte, welche Kinderheime mit | |
ähnlichen Konzepten arbeiten wie der umstrittenen Betreiber Friesenhof, | |
erhielt sie von der Kieler Landesregierung zur Antwort: Diese Frage | |
unterliege dem Geschäftsgeheimnis der Heimträger. In Hamburg hat es nun die | |
Linken-Abgeordnete Sabine Boeddinghaus noch mal versucht: Sie fragte den | |
Senat danach, welche Bedingungen in den auswärtigen Heimen herrschen, in | |
denen Hamburg Kinder unterbringt. Auf mehr als 100 Seiten bringt die | |
Antwort des Senats Licht in das Dunkelfeld – Boeddinghaus sagt, sie sei | |
erschrocken: „Der Senat ist offenbar beratungsresistent, was diese | |
Pädagogik angeht.“ | |
Insgesamt 1.626 Hamburger Kinder und Jugendliche von null bis 21 Jahren | |
lebten demnach zum Stichtag 30. September in rund 500 auswärtigen | |
Einrichtungen, die meisten davon in Schleswig-Holstein und Niedersachsen. | |
Angeblich gibt es in der Großstadt keine bezahlbaren Grundstücke für mehr | |
eigene Jugendwohnungen: So heißt es seit inzwischen 15 Jahren. Jugendämter | |
streben aber auch bewusst einen „Milieuwechsel“ an, wie eine interne Liste | |
aus der Hamburger Sozialbehörde ausführt. Überforderung der Eltern, zu hohe | |
Schul-Fehlzeiten, eine geistige Behinderung der Eltern, sexueller | |
Missbrauch oder schlicht eine gescheiterte Unterbringung: In Hamburg sind | |
das alles Gründe, ein Kind aus der Stadt zu bringen. Für den Hamburger | |
Sozialwissenschaftler Timm Kunstreich, der seit Jahren für die Abschaffung | |
der auswärtigen Unterbringung streitet, ein Unding. „Ich habe noch nie ein | |
Kind erlebt, das die auswärtige Unterbringung nicht als Bestrafung erlebt“, | |
sagt der Sozialforscher, der einige Jahre in der Jugendverwaltung | |
gearbeitet hat. | |
## „Beurlaubung gestrichen“ | |
Hinzu kommt, dass viele der zum Teil kleinen Heime eher repressiv arbeiten: | |
Allein 78 Einrichtungen erlauben in den ersten zwei bis acht Wochen keine | |
Besuche bei der „Herkunftsfamilie“. 61 dieser Heime schränken auch darüber | |
hinaus den Kontakt ein. In Einzelfällen würden „Wochenendbeurlaubungen als | |
Konsequenz für unerlaubtes Verhalten gestrichen“, schreibt der Hamburger | |
Senat auf Boeddinghaus‘ Anfrage hin. „Reine Repression, die zu äußerem | |
Gehorsam zwingt“, sagt dazu Timm Kunstreich. Auch der Jugendhilfeexperte | |
Wolfgang Hammer urteilt: „Wenn Eltern so etwas machen, habe ich noch einen | |
Rest von Verständnis. Bei staatlich bezahlten Pädagogen nicht“. | |
Hammer, der bis 2013 die Abteilung Jugendhilfe in Hamburgs Sozialbehörde | |
leitete, kritisiert die interne Beschulung in den Heimen. „Die Kinder | |
kommen nicht unter Freunde und haben keine alternativen Kontakte“. Aber | |
Heimschulen sind weit verbreitet: 181 Einrichtungen, also mehr als jede | |
dritte, hat diese interne Beschulung, 74 davon liegen in Niedersachsen, 78 | |
in Schleswig-Holstein. Der Hamburger Senat schreibt, es sei zwar Ziel, eine | |
Integration in normale Schulen zu ermöglichen. Ob das gelingt, sei nicht | |
nur von den Kindern abhängig, sondern „von den jeweiligen Ressourcen der | |
Schulen“ vor Ort. Hammer nennt das „verantwortungslos“. Denn in Hamburg | |
haben die Kinder ein Recht auf Inklusion. | |
Und die Antwort des Senats offenbart noch mehr: Die Skandalheime jüngster | |
Zeit hatten ein Phasen- oder Stufenmodell, in dem die Handlungsfreiheit | |
zunächst stark eingeschränkt ist. Im Friesenhof gab es etwa Plus- und | |
Minuspunkte, mit denen Verhalten belohnt oder bestraft wurde. Insgesamt 42 | |
Einrichtungen, in denen Hamburg Kinder unterbringt, haben eine Art | |
Phasenmodell, 115 ein Punktesystem. In acht der Heime gibt es gar einen | |
„Time out Raum“, in denen Jugendliche bei Krisen verbracht werden. Der | |
Senat betont, Punktesysteme seien „übliche Methoden“, damit Kinder eine | |
„eigene Motivation“ entwickeln, um „problematisches Verhalten zu | |
überwinden“. | |
Kritiker Kunstreich nennt die Zahlen erschreckend. „Bei diesen | |
schematischen Modellen wird das Kind nicht als eigene Persönlichkeit | |
anerkannt“, sagt er. Gemeinsam mit dem Arbeitskreis kritische Sozialarbeit | |
will er die Einrichtungen untersuchen. „Oft ist die Realität ja schlimmer.“ | |
Die Hamburger Abgeordnete Boeddinghaus fordert insgesamt eine | |
Neuaufstellung der Jugendhilfe, dafür solle eine Enquetekommission | |
Vorschläge entwickeln. Sie lädt für den heutigen Donnerstag Abend zu einer | |
Fachveranstaltung im Hamburger Rathaus ein. „Die Hilfen müssen viel früher | |
einsetzen, damit sie Heime überflüssig machen“, sagt Boeddinghaus. Bis es | |
so weit sei, müsse gesichert werden, dass die Kinderrechte gewahrt würden. | |
„Dass Kinder sich zum Beispiel ihre Kleidung durch Wohlverhalten verdienen | |
müssen, gehört nicht dazu.“ | |
## Heime anonymisiert | |
Etliche Heime hatten offenbar Angst vor dieser Debatte. So sind in der | |
Antwort auf die Linken-Anfrage bei 21 Einrichtungen aus Schleswig-Holstein | |
die Namen durch „xxxx“ ersetzt – vermutlich unter Hinweis auf | |
Geschäftsgeheimnisse. Für Wolfgang Hammer ist das nicht hinnehmbar: Vom | |
Staat finanzierte Einrichtungen in so einem wichtigen Bereich „sollten dem | |
Parlament Auskunft geben wollen“. | |
25 Nov 2015 | |
## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
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