# taz.de -- Sachbuch über Privatisierung: Geiz, Gier und Zynismus | |
> James Meek zeichnet in „Private Island“ die Geschichte der Privatisierung | |
> Großbritanniens nach. Das Thema ist von brennender Aktualität. | |
Bild: Auch Jahre später gelten Margaret Thatchers harte Reformen in England al… | |
Als Adam Smith 1776 sein Hauptwerk „Der Wohlstand der Nationen“ | |
veröffentlichte, funktionierten die Staaten kaum anders als im späten | |
Mittelalter: In Großbritannien waren die wesentlichen Leistungen und | |
Infrastrukturen die Landesverteidigung, die legislative Kontrolle und die | |
Produktion von Geld. Auch das Straßennetz gehörte dazu und seit 1601 noch | |
die Armengesetzgebung, Vorläufer der Sozialstaatsidee. | |
„Universal Networks“ nennt der Autor James Meek diese Infrastrukturen, für | |
die galt, dass sie für alle erreichbar sein sollten. Mit Industrialisierung | |
und Moderne entwickelten sich Wasser- und Stromnetze, genauso wie Eisenbahn | |
und Nahverkehr waren sie öffentlich finanziert und organisiert. Städte und | |
Staat übernahmen die Gesundheitsversorgung und den sozialen Wohnungsbau. | |
Wie auch immer prekär, einige Teile fügten sich zu einem Sozialstaat | |
zusammen, dessen Grundgedanke eine Kompensation für die Arbeit im | |
Kapitalismus war. | |
„Die Logik der Privatisierung, in deren Spur Margaret Thatcher und ihre | |
Erben Großbritannien setzten, führt zu einer neuen vorindustriellen | |
Befreiung, in der der Staat sich selbst aus allen Aufgaben außer | |
Verteidigung, dem Polizei-Gericht-Gefängnis-System, Währungsaufsicht, | |
Müllentsorgung, dem Armenhaus und der Instandhaltung von Straßen | |
zurückzieht; alle Sozialstaatszahlungen sind eingestellt und all die | |
universalen Infrastrukturen – medizinische Betreuung, Bildung, Gas, Strom, | |
Wasser, Züge und Busse, das Internet – sind nur noch zu Marktpreisen | |
erhältlich, in anderen Worten, sie sind de-universalisiert. | |
Arme Briten haben abermals die Freiheit zu verhungern, an behandelbaren | |
Krankheiten zu sterben, des Lesens und Schreibens unkundig zu bleiben und | |
sich ein Dienstbotenleben in den Armenhäusern zu erkämpfen“, schreibt James | |
Meek gleichermaßen enttäuscht wie entsetzt am Ende seiner brillanten | |
Untersuchung über die Geschichte der Privatisierung in Großbritannien, | |
„Private Island. Why Britain Now Belongs to Someone Else“. | |
Meek hat mit bemerkenswerter Geduld die britische Wirtschafts- und | |
Sozialpolitik der vergangenen dreißig Jahre verfolgt und untersucht im | |
Detail die Privatisierung der Post, der Eisenbahn, der Wasser- und Strom- | |
und Gesundheitsversorgung, aber auch des sozialen Wohnungsbaus. Er tut dies | |
nicht aus der Perspektive des Wirtschaftshistorikers, sondern als | |
sorgfältig recherchierender Journalist, dem Alarmismus fremd ist. | |
## Wasser zum Marktpreis | |
Dieser Unterschied ist wichtig, weil sich James Meek nicht auf die | |
begrifflichen Scharmützel zwischen Ideologemen einlässt und nicht durchs | |
Unterholz akademischer Diskussionen stolpert. Er stellt nüchtern die | |
politischen Entscheidungen fest, geht den Beteiligten der Prozesse nach, | |
führt Dutzende Interviews mit Managern, Planern und beteiligten Politikern. | |
Natürlich weiß er sich dabei auf hochideologischem Grund, die Gedanken von | |
Misswirtschaft und Schwerfälligkeit, fehlender Cleverness und mangelnder | |
Innovationskraft waren auch in Großbritannien gewissermaßen das Echo, das | |
der Begriff „Staatsbetrieb“ in den 1980er und 1990er Jahren hinter sich | |
herzog – zumal ja dem vorgeblichen Gegenbegriff zur freien Marktwirtschaft, | |
dem Ostblocksozialismus, endgültig die Puste ausging. | |
Meek romantisiert die staatlichen Unternehmen Großbritanniens keineswegs. | |
Er betrachtet aber mit Skepsis eine Periode, in der die neoklassische und | |
die neoliberale Wirtschaftsdoktrin unter Thatcher, Reagan und Helmut Kohl | |
zum politischen Glaubenssatz wurden und der IWF davon abrückte, eine | |
Grundversorgung mit Strom, Wasser, Verkehrsanbindung und Wohnraum in | |
staatlicher Hand zu belassen. | |
Meeks Skepsis rührt daher, dass er sich für die Funktion der Privatisierung | |
interessiert, also: Haben die Privatisierer der Eisenbahn wirklich ein | |
effizienteres System, schnellere Züge, modernere Infrastruktur und durch | |
den Markt sich selbst regulierende Preise geschaffen? Funktioniert die Post | |
nach der Privatisierung besser, schneller, günstiger? Ist dem Gemeinwohl | |
mit der Entstaatlichung von Wasser und Strom gedient? Ergibt die später | |
unter Labour ausgeprägte Präferenz für private Wohnungsbaugesellschaften | |
wirtschaftlich und sozial gesehen Sinn? | |
## Kommt die Post schneller? | |
Sie tut es nicht. Meek findet haarsträubende Formen von versagenden | |
Aufsichtsbehörden, überforderte und verängstigte Regulierer. Das überrascht | |
nicht, denn er untersucht eine Sollbruchstelle staatlichen Handelns, hier | |
werden von Politikern und Parteien die Behörden und Institutionen, | |
Infrastrukturen und Funktionsweisen ausgehöhlt und zerrieben. Und Meek | |
begibt sich auch auf die Spur komplett versagender Unternehmen, | |
überforderter Manager, findet allenthalben eine Mischung aus Geiz, Gier und | |
Zynismus. | |
Am Beispiel Großbritanniens stellt er fest, dass privates Profitinteresse | |
kaum geeignet ist, um in den zentralen Infrastrukturen einer Gesellschaft | |
die universalen Netzwerke zu bedienen. Bei den De-facto-Monopolen der | |
Wasser- und Stromversorgung endet die Privatisierung in dem | |
Selbstwiderspruch, dass nun staatliche Unternehmen aus Frankreich oder Abu | |
Dhabi die Versorgung in Großbritannien übernehmen. Die Eisenbahn musste | |
nach einem Fiasko wiederverstaatlicht werden – mit Verlusten in | |
zweistelliger Milliardenhöhe. Bei der Post müssen Rentnerbrigaden privater | |
Firmen ran, die Leistungen sind teurer, die Lieferungen seltener. | |
Also beginnt James Meek darüber nachzudenken, dass die Gebühren, die für | |
Strom und Gas entrichtet werden müssen, als Steuern zu verstehen seien und | |
die Privatisierung der universalen Infrastrukturen deshalb einem Verkauf | |
der Gesellschaft gleichkommt – da niemand ernsthaft ohne Strom, Wasser und | |
Gas auskommt, sind es nicht die Leistungen, die der Staat privatisiert, | |
sondern die zahlenden Bürger, die ein Staat an Unternehmen abgibt. All das | |
liest sich brennend interessant vor dem Hintergrund, dass Privatisierung | |
wieder das Credo der Europäischen Institutionen ist, um in Griechenland den | |
Karren aus dem Dreck zu fahren. | |
## Philantropische Stummel | |
Allerdings geht James Meek über die Geschichte der Privatisierung hinaus: | |
Im letzten Kapitel öffnet er das Fenster zur politischen Gegenwart, indem | |
er den Wahlkreis von Nigel Farage besucht, dem Vorsitzenden der aus | |
Bigotterie und Rassismus gewachsenen Ukip. Nüchtern betrachtet, habe der | |
Erfolg der Parteipropaganda nichts mit Entscheidungen aus Brüssel zu tun, | |
aber viel mit dem Einfluss globalisierter Wirtschaft: An den | |
Einkaufsstraßen werden Geschäfte von großen Ketten verdrängt, während | |
zugleich lokale und regionale Unternehmen schließen, Wasser und Strom aus | |
dem Ausland kommen und Sozialwohnungen eine Art „philanthropischer Stummel“ | |
von privat operierenden Wohnungsbaugesellschaften geworden sind. | |
„Das Wachstum von abwesender Vermieterschaft und die Privatisierung von | |
Wohnraum in Farages ausgewähltem Schlachtfeld, die Entfremdung der | |
Wirtschaft und Infrastruktur der Menschen, die hier leben, haben in | |
überwältigendem Maße mit Entscheidungen von aufeinanderfolgenden britischen | |
Regierungen zu tun.“ Und wenn dann immer mehr Unternehmer die laxen | |
Aufsichtsbehörden nutzen, um polnische Bauarbeiter unter dem gesetzlichen | |
Mindestlohn zu bezahlen, verfangen die simplen Botschaften der Ukip in der | |
Mitte der Gesellschaft. Und von dort gibt sie Premierminister James Cameron | |
gerade in Form von Gesetzespaketen und Verordnungen wieder an Einwanderer | |
und sozial Schwache weiter. | |
25 Nov 2015 | |
## AUTOREN | |
Lennart Laberenz | |
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