# taz.de -- Ausstellung Gustav Metzger in Berlin: Autodestruktive Schönheit | |
> Das prozessuale Werk „Mass Media – Today and Yesterday“ des | |
> Aktionskünstlers Gustav Metzger ist im Berliner N.B.K. zu erleben. | |
Bild: Gustav Metzger, „Mass Media – Today and Yesterday“ (1972/2015). | |
BERLIN taz | Ein Raum, in seiner Mitte eine Skulptur, die täglich wächst, | |
die sich ständig verändert, die lebt: Zum Zeitpunkt des Augenscheins misst | |
sie sechs Stapel in der Breite und elf Stapel der Länge nach: anderthalb | |
Meter tief, 66 eng gereihte Türme aus Papier, eine Menge Holz: | |
Lokalzeitungen, Boulevardpresse, Ausgaben überregionaler Tages- und | |
Wochenzeitungen, fein säuberlich aufeinandergestapelt. | |
Begonnen wurde diese kinetische Skulptur von dem in London lebenden Gustav | |
Metzger. „Mass Media – Today and Yesterday“ hat Metzger als | |
partizipatorisches und prozessuales Werk angelegt. Zum ersten Mal 1972 | |
konzipiert, wird die Arbeit seither fortlaufend erneuert und jeweils anders | |
angeordnet. Getreu dem von ihm ausgerufenen „Autodestruktiven Manifest“ | |
verschwindet Metzgers Künstlersubjekt in diesem Werk. „Self-destructive […] | |
sculpture is a total unity of idea, site, form , colour, method and timing | |
of the disintegrative porcess“, heißt es im ersten Manifest, 1959. | |
Nun also in einem Raum des Berliner N.B.K., in dem industrielle Klarheit | |
und Reduktion vorherrschen, kaum etwas erinnert dagegen an Kunst oder den | |
Kult um das Genie. Es riecht nach Altpapier, Druckerschwärze und Klebstoff, | |
nach Abfall. An einem Tisch befinden sich Stifte, Scheren und Kleber: | |
Besucher der Ausstellung bemächtigen sich ausliegender Zeitungsexemplare, | |
schneiden daraus aus und collagieren. Metzger hat „Mass Media – Today and | |
Yesterday“ zwar initiiert, jedoch verselbstständigen sich seine Bedeutungen | |
durch den Publikumsverkehr, die Besucher der Ausstellung gestalten das Werk | |
maßgeblich mit. Beim Betrachten dieses Vorgangs kommt einem unweigerlich | |
die Forderung des französischen Dichters Lautréamont in den Sinn: „Die | |
Poesie muss von allen gemacht werden.“ | |
In der Berliner Laboratoriumssituation entsteht eine Text-Bild-Schere für | |
einmal live und direkt. An den vier Wänden sind Ausschnitte und Collagen an | |
schwarzen Brettern angebracht, sortiert nach Themen wie Auslöschung, Konsum | |
und Umweltverschmutzung. „VW-Boss dampft ab“, „Vier Jahre Haft für SS-Ma… | |
Gröning“, „Pop-Schamane Thundercat“ lauten drei unterschiedlich große | |
Überschriften. Dazwischen sind Collagen entstanden, etwa die einer Eule, | |
unter deren Fittichen ein Foto des russischen Präsidenten Wladimir Putin | |
eingeklebt ist. Vermummte mit Waffen im Anschlag stürmen einen Hügel | |
hinauf, daneben ein Fleischwolf, in dem Elefanten und Papageien verwurstet | |
werden. | |
## Wald an Zuschreibungen | |
Dieser Wald an Zuschreibungen und Bildern, Wortspielen und | |
Dekontextualisierungen würde Gustav Metzger vermutlich gefallen. Die | |
Verfallsprozesse von Materialien aus der Industrie spielen in seinem Werk | |
eine zentrale Rolle. Ihre Behauptungen, Widersprüche und Bedeutungen und | |
den Wandel ihrer Bedeutungen dreht der 89-Jährige weiter, bis sich die | |
Gegenstände wieder von selbst zersetzen. Inhärent ist Metzgers Schaffen | |
auch ein Zweifel am ewigen Fortschrittsglauben. | |
Dringlich wird der Exorzismus in seinem Werk, wenn man Metzgers Biografie | |
berücksichtigt. Geboren 1926 als Kind polnischstämmiger Juden in Nürnberg, | |
wurde er im Januar 1939 mit seinem Bruder durch einen Transport des Refugee | |
Children’s Movement nach England transportiert und so vor dem Zugriff der | |
Nazis gerettet. Anders als sein Vater, der 1938 verhaftet und nach Polen | |
ausgewiesen wurde, und fast alle Familienangehörigen, die in den KZs | |
ermordet wurden. Bevor Metzger an verschiedenen Kunsthochschulen lernte, | |
arbeitete er etwa als Schreiner und Bauer. Weil er die Härte und den Dreck | |
Londons als unerträglich empfand, zog er aufs Land, lebte am | |
Existenzminimum und arbeitete als Buchhändler und Antiquar. In den | |
Fünfzigern schloss er sich der britischen Antiatombewegung an. | |
„Auto-destructive art is primarily a form of public art for industrial | |
societies“, schrieb er 1959 in seinem ersten „Autodestruktiven Manifest“. | |
Verfall ist von Anfang an Teil der Aktion: „When the disintegrative process | |
is complete, the work is to be removed from the site and scrapped.“ Das | |
verweist auch auf biologische Prozesse der Natur. Zudem geht es Metzger auf | |
radikal antikapitalistische Weise auch nicht um den Wert, mithin den | |
kommerziellen Charakter von Kunstwerken. | |
Mit der Zerstörung will Metzger auch keine Ruinenromantik hervorbringen, in | |
der Zeitungsskulptur wird nichts Althergebrachtes bewahrt. „Ich suche eine | |
neue Schönheit“, hat Metzger dem Kunstwissenschaftler Justin Hoffmann | |
einmal erklärt. „Eine Schönheit, die es nicht anders gibt oder geben kann.�… | |
Die Schönheit seines autodestruktiven Kunstwerks entsteht, weil es zeitlich | |
beschränkt ist. Bitte rechtzeitig anschauen. | |
3 Nov 2015 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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