# taz.de -- Berliner Ausstellung über Dieter Roth: Ihm war auch Hundegebell Mu… | |
> Ein Universalkünstler wird ausgestellt: Der Hamburger Bahnhof zeigt „Und | |
> weg mit den Minuten. Dieter Roth und die Musik“. | |
Bild: Das Gefrickel-Werk „Pier-House-Painting“ von Dieter Roth, gezeigt auf… | |
Immer griffbereit: Aktenordner, Thermoskanne, Trompete, Autoradio, | |
Getränke, Gläser, Keyboard, Spraydosen und Monitor. Diese „Bar 1“ | |
(1983-1997) genannte Assemblage fungiert als Prolog des großangelegten | |
Parcours über „Dieter Roth und die Musik“, einer instruktiven Schau im | |
Hamburger Bahnhof in Berlin. | |
„Bar 1“ ist eine an Stangen und Paletten zusammenmontierte, schier | |
überwältigende Ding-Sammlung. Wo beginnt ihr Innenleben, was ist ihr Außen? | |
Das zusammengetragene Material scheint variabel erweiterbar, weist | |
zahlreiche Gebrauchsspuren auf. Zum Vorschein kommt darin die Erinnerung an | |
Gehörtes, die fulminante Erfahrung von Musik, und sie wird ohne Umschweife | |
weitergegeben. | |
Etwa als Performance: „Bar 1“ wirkt, als seien Intarsien eines Ateliers zum | |
raumgreifenden Bühnenbild erweitert. Man merkt es nicht nur an der | |
13-jährigen Entstehungsgeschichte der „Bar 1“: Zeit war für Dieter Roth | |
(1930-1998) ein relativer Begriff. Im „Fernquartett“ einer während zehn | |
Jahren entstandenen Installation, bestehend aus vier Kassettenrekordern und | |
vier Lautsprecherboxen installiert in einem ausklappbaren Rollschrank, | |
zusammen mit 48 Tapes in Boxen aus Plastik. | |
Darauf ist Musik enthalten, die von Roth und seinen drei Kindern zwischen | |
1970 und 1980 eingespielt wurde, jeweils zwölf Stunden unabhängig | |
voneinander entstandenes Material mit Viola, Cello, Violine und Piano. | |
## Grenzüberschreitungen eines Universalkünstlers | |
„Und weg mit den Minuten“ heißt: Roth stiehlt dem Publikum die Zeit. Nichts | |
weniger als die Grenzüberschreitung darf man von diesem Universalkünstler | |
erwarten. Musik war für ihn kein harmonischer Begriff, ersichtlich im Werk | |
„Tibidabo 24 Stunden Hundegebell“ (1977/78): in einem Tierheim aufgenommene | |
Hundelaute auf 24 Tapes, dazu unzählige Fotos und Zeichnungen: Im Hamburger | |
Bahnhof muss man sich dafür in den Keller begeben, dort dringt das Winseln | |
und Jaulen der Tiere aus allen Ecken. | |
Zahlreiche Werke entstehen gemeinsam mit Künstlerkollegen, etwa Vertretern | |
der Gruppe vom Wiener Dichter Workshop (u. a. Oswald Wiener und Günter | |
Brus) gibt er etwa in den Siebzigern in Westberlin Konzerte unter dem Titel | |
„Selten Gehörte Musik“, die auf Schallplatte erschienen sind. Darin | |
verschränken sich musikalisches Material, Sprachkritik und Nonsens-Dialoge | |
zu einem Maelstrom. | |
## Kindheit mit Klavierunterricht | |
Zur Musik hatte Dieter Roth ein inniges Verhältnis. Die Kindheit während | |
des Zweiten Weltkriegs verbrachte er fernab seiner Nazieltern in der | |
Schweiz, wo er in einer Pension untergebracht war, zusammen mit Emigranten, | |
die künstlerisch tätig waren. Dort erhielt er Klavierunterricht, besuchte | |
Konzerte, bekam Kenntnisse in klassischer Musik und Jazz vermittelt. In den | |
Fünfzigern als Grafiker in Bern tätig, spielte Roth zeitweilig in einer | |
Jazzcombo. Seine riesige Plattensammlung beherbergt Jazz, Pop und | |
klassische Musik. Er las Partituren, während er Musik hörte. | |
Wie gut er Instrumente spielen konnte, darüber streiten die Experten. Seine | |
musikalische Begabung hat er erfolgreich verschleiert. Propagierte | |
„Nicht-Können“ und erweiterte eigene Aufnahmen oder konzertante Auftritte | |
um außermusikalische und technische Aspekte: Das Gespräch mit dem | |
Tontechniker wird Teil der Performance beim „Quadrupel-Konzert“ (Basel | |
1977), die Unterbrechung wird Teil des performten Stücks. | |
Material, das währenddessen auf Tonband aufgenommen wurde, wird live | |
dazugemischt. An seinem „Bösendorfer“-Flügel hatte Roth die Saiten grün | |
lackiert, am Gehäuse sind oberhalb der Tasten Ausschnitte von Polaroidfotos | |
angebracht, sie wirken wie Fresken. | |
## Kalendereintrag vom August 1997 | |
Fragmentarisches zieht sich durch die sehenswerte Ausstellung. Auf 3000 | |
Quadratmetern sind 200 Werke zu sehen, darunter Gemälde, Fotos, | |
Konzertplakate, Plattencover, Tondokumente, Buchillustrationen, Briefe und | |
verstreute Tagebuchnotizen „Arnold -Schönberg, Schwarzenegger“ steht da | |
etwa mit einem Pfeil versehen, in einem Kalendereintrag vom August 1997. | |
„Dieter Roth verstand sein ganzes Tun als Teil des Stoffwechselkreislaufs - | |
und da fällt nun mal viel Scheiße an: fruchtbarer Dung für Neues“, schrieb | |
Roths Künstlerkollege Jan Voss einmal zum Verständnis von dessen | |
dichterischem Werk. Und Roths dichterisches Werk, seine Auseinandersetzung | |
mit der Sprache ist mit seiner Musikleidenschaft verwandt. | |
Ansätze und Ausdrucksformen der Konkreten Poesie sind grundlegend für | |
Dieter Roths Musikverständnis. „Roth geht (...) von Sprache als einzigem | |
und zugleich ungenügendem Zugang aus, über den wir Realität und (...) | |
Identität erfahren.“ Schreibt Sven Beckstette im Katalog. Oftmals versagte | |
Dieter Roth die Sprache, Musik half ihm beim Vermitteln seiner | |
Gemütszustände und Ausleben seines immensen Schaffensdrangs. | |
18 Mar 2015 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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