# taz.de -- Mehr Entertainment als Aufklärung: Zwei Groschenopern | |
> In Schwerin und Hamburg setzt man auf „Die Dreigroschenoper“ von Bert | |
> Brecht und Kurt Weill, denn die macht ja total viel Spaß. | |
Bild: Ein Blaumann und eine Zigarre pro Person, fertig ist der Brecht-Abend in … | |
Die Hamburger schmettern den Gassenhauer vom gefährlich bezahnten Haifisch | |
gar nicht erst, nur die Melodie gleitet ab und an bedrohlich durchs | |
Geschehen. Und auf die Frage, ob jetzt mal der [1][Kanonen-Song angestimmt] | |
werden soll, heißt es schlicht: „Nö.“ Die Schweriner schmettern die Morit… | |
von Mackie Messer textbuchgemäß gleich als Vorspiel und [2][mit dem ganzen | |
Ensemble zur chorischen Monumentalisierung] und verweigern dem Publikum | |
auch sonst kein Déjà-vu-Erlebnis. | |
Das Hamburger Thalia-Ensemble tritt zigarrenrauchig vernebelt im | |
Brecht-Einheitslook auf: Proll-Blaumann, Schiebermütze, Meckischnitt. Im | |
nur 100 Kilometer entfernten Schwerin illusionieren die Kollegen des | |
mecklenburgischen Staatstheaters mit kostümprächtiger Ironie die angeblich | |
goldenen 20er-Jahre. „Dreigroschenoper“ zur Schauspielzeiteröffnung. Weil | |
der Stoff hochaktuell, hochpolitisch, bohrend gesellschaftskritisch ist? | |
Nö. Ex-Ost- und schon immer West-Theater sind sich einig in einer nicht | |
zeitlosen Modernität: Auf Aktualisierungen kann verzichtet werden, mehr als | |
Propaganda-Sprüche für Demonstrationsplakate sind eh nicht zu entdecken. | |
Müde wird der finale Appell an die Milde der Justiz verkündet – ist sie | |
doch längst juristische Urteilspraxis. Dass Gründung oder Rettung einer | |
Bank die viel größeren Verbrechen darstellen als Bankeinbrüche durch | |
Tresorknacker oder Hacker – dafür müssen nicht Logos der Lehman Brothers | |
oder HSH Nordbank auf die Bühne projiziert werden. Aber gäbe es 87 Jahre | |
nach der Uraufführung nicht etwas mehr zu erzählen als die lässigen | |
Behauptungen, Ausbeutung und Korruption in Großunternehmen und im | |
mittelständischen Handwerksmilieu gingen ähnlich zynisch vonstatten, Geld | |
und Egozentrik regierten die Welt? | |
Auf alle Fälle geht mit solch schlichter Belehrung von gestern Unterhaltung | |
heute. Gerade auch, weil die dazu komponierten Kurt-Weill-Schlager mit dem | |
rumpeligen Charme querständiger Harmonien inzwischen den Status von | |
Popklassikern haben. Revoluzzern im Mitsumm-Modus. So mag der Bürger das | |
Bürgererschrecken. Und wird vom Regieansatz des scheidenden Schweriner | |
Schauspielchefs Peter Dehler bestens bedient: volle Dröhnung Revue. | |
Während die Sprechszenen zu Comedynummern über Mann-Frau- und | |
Familienbeziehungen aufgebrezelt werden, die Bordell-Episoden als | |
multikulturell romantisierte Genremalerei inszeniert sind, legen die | |
Musiker im Orchestergraben viel Wert auf schönen Schrägklang mit | |
Jazzanmutung – und die Schauspieler viel Wert auf wirklich sehr gute | |
Gesangsleistungen. Übersetzt in Rockmusik-Kategorien: Eine | |
Brecht-Cover-Band spielt den größten Hit ihres Helden noch mal sauber im | |
Retro-Design vom Blatt. „Glotzt nicht so romantisch!“ steht über der Bühn… | |
davor Klatschmarschjubel. Ein garantierter Publikumserfolg. Das ist | |
vielleicht der einzige Grund, das ausinszenierte Stück noch auf den | |
Spielplan zu setzen. | |
In Hamburg konnte und wollte sich Thalia-Hausregisseur Antú Romero Nunes | |
nicht vor der Aufgabe drücken. Lässt aber verkünden, das Stück sei längst | |
verbraucht. So ist sein Regieansatz eher der einer Postrockband: Alles | |
schon erlebt – und nun ganz entspannt noch mal mit einstigen Kicks spielen. | |
Deutlich wird das gleich am ersten Satz des Werkes: „Es muss etwas Neues | |
geschehen.“ | |
In Schwerin wird er stückimmanent gedeutet: als Suche des Bettlerkönigs | |
nach neuen Methoden, den verhärteten Menschen wieder üppigere Mitleidgaben | |
aus den Portemonnaies zu barmen. In Hamburg fragt Jörg Pohls Peachum nach | |
dem Neuen, das die „Dreigroschenoper“ einst zu bieten hatte. Da sie | |
inhaltlich doch mehr oder weniger gut John Gays „Beggar‘s Opera“ aus dem | |
Jahr 1728 sowie endlos weitere Quellen paraphrasiert, bleibt – der | |
V-Effekt. | |
Das sei kein Energy-Drink, wird erläutert, sondern ein ästhetischer Kniff | |
gegen Einfühlungskitsch. Daraus entwickelt das Ensemble eine hinreißend | |
alberne bis komödiantisch verspielte Einführungsveranstaltung ins epische | |
Theater. Wer keine Vorstellungskraft habe, könne angesichts der leeren | |
Bühne gleich wieder gehen, sagt Pohl/Peachum. Nirgendwo eine Brechtgardine | |
oder bühnenbildnerisches Augenfutter wie in Schwerin. Nur eine eisig grell | |
illuminierende Leuchtstab-Installation baumelt über dem Geschehen. | |
Die Darsteller brechen ständig die Aufführungsrealität: wollen die Kulissen | |
auch noch spielen, rezitieren Regieanweisungen, stellen pflichtschuldigst | |
ihre Produktionsmittel aus und flechten zur Ehrenrettung des ab und an | |
verhohnepiepelten Autoren ein wenig seiner Lyrik ein. Vor allem aber: Sie | |
verwandeln sich ihre Rollen nicht an, stellen sie deutlich aus und | |
diskutieren dabei noch diesen V-Effekt. Die Erläuterungssentenzen des | |
Autors tragen sie im nasalen Brecht-Tonfall und erkenntniserhellend naiv | |
vor, oder probieren sie auch einfach mal aus. Das ist lustiger als | |
Lehrbücher zur Dramentheorie – und hat schon mal die Freizeitspaßanmutung | |
bekiffter Theaterwissenschaftsstudenten. | |
Wobei die Thalia-Leute Brechts holpriger Szenendramaturgie auch noch mit | |
grellen Kabarettnummern die Jux-Krone aufsetzen, beispielsweise imitiert | |
ein Bettlerdarsteller den nöligen Leidensmonolog eines Hamburger | |
U-Bahn-Schnorrers und Männerstreit wird zeitlupig in Kampfsport-Manier | |
ausgetragen. Der reitende Happy-End-Bote kommt nicht wie in Schwerin als | |
Lachnummer auf einem Papppferd daher, sondern als Retter des bürgerlichen | |
Theaters auf einem echten Gaul. | |
Summa summarum: Aus dem süffigen Stück mal ein genuin politisches zu | |
machen, darum müssen sich andere kümmern. Denn ob nun postrockend um die | |
Oberflächenreize herum gespielt wird oder Cover-rockend genau diese betont | |
werden: Der Text gewinnt keine Dringlichkeit. Es triumphiert in Schwerin | |
wie Hamburg das Amüsement über die eventuell mögliche Aufklärung. Aber die | |
szenische Fantasie hält jeweils drei Stunden lang das Publikum bestens bei | |
Laune. Zwei Spielplanhits mehr haben nun die Theater des Nordens. Kann | |
behauptet werden, welcher der bessere ist? Nö. | |
21 Oct 2015 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=gi433VgJ5bc | |
[2] https://www.youtube.com/watch?v=9yQ5FB-Z0QA | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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