# taz.de -- Elektrodub-Album vom Musiker Pole: Im Wald sind alle Menschen gleich | |
> Er vertone hier nicht den Wald, das will der Musiker Pole direkt mal | |
> klarstellen. Sein Album „Wald“ sei eine mystische Verklärung der Natur. | |
Bild: Wenn er nicht im Studio ist, ist er im Wald: der Berliner Produzent Pole. | |
Im Wald sind alle Menschen gleich. Lebewesen unter vielen anderen. | |
Zurückgeworfen auf das, was einmal die Instinkte waren. | |
Instinkte sind heute nur noch Echos einer vergangenen Zeit, aber der Körper | |
ist schlauer, als man denkt: Die vom Alltag betäubten Sinne kalibrieren | |
sich bereits kurz nach dem Betreten des Waldes neu. Im Wald riecht man | |
anders, hört man anders, sieht man anders. Bis die immer gleichen Muster | |
schließlich zu Variationen werden. Auf den ersten Blick ist der Wald ein | |
homogenes Gebilde, auf den zweiten offenbaren sich die komplexen | |
Verästelungen des Holzes, Gerüche und Licht, das sich immer neu zu brechen | |
scheint. | |
Dass sich in letzter Zeit einige Protagonisten der gerne als leblos | |
geschmähten elektronischen Clubmusik von der Natur inspirieren lassen, | |
liegt vermutlich an den Parallelen. Auch der Wald gewinnt seine Faszination | |
aus der Wahrnehmungsverschiebung, bei der die stetige Wiederholung sich | |
plötzlich zu variieren beginnt. Ein gelungenes Beispiel ist das neue Album | |
des Berliner Electronica-Produzenten Pole. | |
„Wald“ enthält wunderbar verdichtete Kompositionen aus abstraktem Dub, | |
Slow-Motion-Techno und diesem unterkühlten und dennoch warmen | |
Markenzeichensound von Pole, der Ende der Neunziger Subgenres wie Clicks & | |
Cuts oder Glitch beeinflusste. | |
Auch auf „Wald“ sind die neun Tracks, die auf Titel wie „Salamander“ od… | |
„Käfer“ hören, Momentaufnahmen digitaler Präzision: Jeder Sound, jeder | |
Beatschnipsel hat seinen ihm eigens zugewiesenen Platz im Raum, schwebt mal | |
frei herum, bleibt mal versteckt im Dickicht oder bricht unerwartet herein | |
wie ein Wasserfall, bevor er wieder im Schatten verschwindet. | |
## Ideen beim Spazierengehen | |
Aber stopp. Hier geht es weder um eine Vertonung des Waldes noch um eine | |
mystische Verklärung von Natur, stellt Pole alias Stefan Betke direkt zu | |
Beginn des Gesprächs in einem Berliner Café klar. Dennoch brachte ihn das | |
Draußensein zu dem neuen Werk, auf das die Fans acht Jahre warten mussten. | |
„Als mir die Idee kam, bin ich tatsächlich im Wald unterwegs gewesen.“ | |
Dieser Ort sei für ihn keine Vorlage, sondern „eine Art Platzhalter für | |
Ideen“ gewesen. | |
Sobald er bei seinen Wanderungen im Isartal nahe München oder in den Alpen | |
auf etwas Interessantes stieß, machte er ein Foto. „Wenn ich dann im Studio | |
nicht mehr weiterwusste, schaute ich mir die Fotos an. Es war eine Art | |
Memory Board.“ | |
Für Melodien, Klänge oder gar ganze Stücke? „Es sind meistens Strukturen. | |
Meine Musik entsteht in meinem Kopf immer über Strukturen. Melodien gibt es | |
ja kaum, und die Akkorde sind oft recht simpel“, sagt Betke mit dem | |
routinierten Understatement-Schmunzeln eines Underground-Veteranen. | |
Die Waldspaziergänge hat Betke von seinem Vater. Als Kind habe er es | |
„gehasst, mit in den Wald zu müssen“. Erst als er älter wurde und allein | |
lebte, wurde die Natur zu seinem bevorzugten Rückzugsraum. Ein gesundes | |
Hobby, gibt es doch Studien, nach denen das Risiko von | |
Zivilisationskrankheiten in Waldgebieten geringer ist als in Städten. Betke | |
erinnert das an eine Arte-Reportage über ein Dorf in einem Wald in | |
Bolivien: Fast 80 Prozent der Einwohner sind über hundert Jahre alt. „Was | |
ich interessant finde, ist, dass diese Menschen der Natur nur das | |
Wichtigste entnehmen, sich vorwiegend vegetarisch ernähren, viel vom selbst | |
angebauten Tabak rauchen, aber ganz langsam leben.“ | |
## „Mehr Zeit nehmen, etwas zu verstehen“ | |
Man könnte denken, Betke spreche hier über seine Musik. Denn die ist seit | |
je von zwei Dingen geprägt. Da wäre zunächst die Reduktion auf das | |
Wesentliche. Pole erinnert an Dub, mit dem er seit Beginn seiner Karriere | |
vor rund 20 Jahren in Verbindung gebracht wird. Und das, obwohl seine Musik | |
mit der sediert-euphorischen Clubmusik, die in den 70ern als skelettierte, | |
auf Drums und Bass eingedampfte Form von Reggae entstand, nur wenig teilt. | |
Dub ist für Betke eher eine Kompositionsmethode. Die Bässe sind bei ihm | |
zwar allgegenwärtig, haben aber keine Melodiefunktion, bleiben stets | |
subtil. | |
In „Wald“ klingen sie noch hintergründiger als früher. Neu sind auch die | |
verzerrten Sounds, die etwa in „Aue“ den sonst sehr transparenten | |
Klangfluss aufrauen, oder in „Moos“, wo sich allmählich ein an die | |
E-Gitarre erinnernder Sound unter das Melodiefragment schiebt. Das alles | |
unterscheidet sich stark von Amtlichkeit. | |
Überhaupt sind Betkes Tracks merkwürdig zeitlos, enthalten zwar bekannte | |
Strukturen wie loopbasierte Beats, umschiffen dabei aber jede Art von | |
gegenwärtiger Klangsignatur, seien es aufdringliche Bässe oder dystopische | |
Dissonanzen. Hier zeigt sich das andere, das den 48-Jährigen mit dem | |
Lebensstil der bolivianischen Dorfbewohner verbindet: die Entschleunigung. | |
Acht Jahre hat die Produktion des Albums gedauert. | |
Der Komponist führt dies nicht nur darauf zurück, dass er nach dem | |
Lustprinzip arbeitet: Als Mastering-Engineer muss er nicht von der eigenen | |
Musik leben. Er sagt: „Ich würde mich freuen, wenn wir uns wieder mehr Zeit | |
nehmen, etwas zu verstehen. Zu wenige Leute sehen in Musik so etwas wie | |
eine zukünftige Entwicklung.“ | |
2 Nov 2015 | |
## AUTOREN | |
Philipp Rhensius | |
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