| # taz.de -- Pianist Jan Lisiecki über Sinne und Stille: „Frédéric Chopin i… | |
| > Jan Lisiecki ist zwanzig Jahre alt und Starpianist. Er liebt es, wenn das | |
| > Publikum so gebannt ist, dass es vergisst zu klatschen. | |
| Bild: Jan Lisiecki sieht bei Unruhe im Publikum auch die Künstler in der Veran… | |
| Die Philharmonie in Berlin, Jan Lisiecki schleicht sich durch den | |
| Seiteneingang, hoch zum Probenraum. Am Steinway, mit Brille, sieht er aus | |
| wie einer, der brav übt. Beim Reden wird er locker, da nimmt er die Brille | |
| ab und fängt an zu scherzen: Hätten ja ordentlich Bierflaschenböden dran | |
| glauben müssen, für diese bunten Philharmonie-Fenster. – Und er hätte die | |
| Flaschen gern selbst geleert? „Klar.“ | |
| taz.am wochenende: Herr Lisiecki, es ist nicht mal Mittag und Sie haben | |
| schon drei Stunden am Klavier trainiert. Gibt es keine lässigeren | |
| Uhrzeiten? | |
| Jan Lisiecki: Ich stehe einfach gern früh auf, besonders wenn ich zu Hause | |
| bin. Das hat ein paar Gründe: Es ist still. Aber auf eine andere Art still | |
| als abends. Die Menschen beginnen ihren Tag. Es wird nicht partylaut. Man | |
| ist noch unbelastet von den Gedanken, die sich im Lauf des Tages | |
| übereinanderlagern. Ich beginne aus dem Nichts. | |
| Nach den Konzerten, im Hotelzimmer, setzen Sie sich nicht mehr an den | |
| Flügel? | |
| So gut wie nie. Ich übe auch nicht abends. Um 17 Uhr bin ich fertig. | |
| Ist Passion eigentlich wichtiger als Technik? | |
| Meine Lehrerin wollte, dass ich ein Stück spiele, das in meinen Augen eine | |
| reine Technikübung war. Da steckte keine Musik drin. Sie meinte: Du musst | |
| das halt trainieren, bevor du richtige Musik spielen kannst. Ich fragte: | |
| Gibt’s nichts anderes? Dann kam sie mit den Chopin-Etüden. Das sind zwar | |
| Trainingsstücke, aber völlig anders. Keine 08/15-Fingerübungen. | |
| Bei den Chopin-Etüden geht es nicht ums Angeben. | |
| Eben. Man kann sie natürlich auch auf eine Angebertour spielen, aber die | |
| spannendere Art ist es doch, ihrer Schönheit einen Ausdruck zu geben. | |
| Die 12. Etüde zum Beispiel, die sogenannte Revolutionsetüde, spielen Sie | |
| mit weniger Drive als andere. Sie konzentrieren sich da mehr auf die | |
| schmerzhaften Momente. | |
| Der Spitzname – Revolutionsetüde – kommt ja nicht mal von Chopin … | |
| … wie die meisten Klassik-Spitznamen nicht von den Komponisten stammen. | |
| Für mich steckt die 12. Etüde voller Schmerz und Leid. Ist daran eine | |
| Revolution schuld? Nein. Es könnte doch um jede Art von Schmerz gehen. | |
| Sie können sehr, sehr schnell spielen. | |
| Aber es gibt richtige und falsche Zeitpunkte dafür. Man darf das Publikum | |
| nicht von Anfang bis Ende in einer Stimmung lassen, bei einer Farbe, an | |
| einem Ort. Unsere Aufmerksamkeitsspanne ist nicht lang, nicht mal, wenn die | |
| Musik richtig gut ist. | |
| Die unterschiedlichen Stimmungen, die Sie brauchen, haben Sie mal mit | |
| Parfum und Kaffeebohnen verglichen. | |
| Ja, als ich alle Chopin-Etüden aufgenommen habe. Tagelang nur Chopin. Wie | |
| soll man sich da die Perspektive auf sein eigenes Spiel bewahren? Mit jedem | |
| Komponisten ändert sich nämlich die Art, wie ich das Klavier berühre. | |
| Chopin ist mein Parfum. Um es richtig zu genießen, muss ich zwischendurch | |
| mal an Kaffeebohnen schnuppern: Bach! | |
| Wie riecht Chopin? | |
| Richtig gut! | |
| Und wie lernen Sie ein Stück Musik kennen? | |
| Am liebsten schaue ich erst mal in die Noten, um meine Ideen zu finden. | |
| Mein eigenes Konzept dieses Stücks. Ohne zu wissen, wer vorher was anders | |
| gemacht hat und warum. Ich will frisch starten, ohne Vorbelastung. | |
| Das geht sicher nicht immer. Viele Stücke werden Sie vorher schon gehört | |
| haben. | |
| Stimmt, da hat man schon ein paar Ideen intus. Trotzdem will ich mir Stücke | |
| selbst erarbeiten, nicht einfach nachspielen. | |
| Klingt Ihre Interpretation von Tag zu Tag anders, je nach Gefühlslage? | |
| Ich glaube, wie ich spiele, spiegelt nicht unbedingt meine Tagesstimmung. | |
| Manchmal habe ich einen traurigen Tag und die fröhliche Musik wird zum | |
| Eskapismus. Aber Musik muss wahrhaftig sein, die Stimmungen, die aufs | |
| Publikum übergehen sollen, kann ich nicht herzaubern. Dass man etwas | |
| hundertmal geprobt hat, hilft gar nicht so viel dabei, es schließlich vor | |
| einem Publikum zu spielen. | |
| Sie lachen viel. Woher kommt der Schmerz in Ihrem Spiel? | |
| Ich geb ja zu, bisher musste ich im Leben wirklich wenig Schmerz erfahren. | |
| Wenige Verluste. Aber weil ich keinen Todesschmerz erlebt habe, heißt das | |
| doch nicht, dass ich ihn nicht in der Musik zum Ausdruck bringen kann, | |
| oder? Die menschliche Fantasie ist doch extrem mächtig. Wenn ich mich | |
| selbst davon überzeuge, dass ich diese Geschichte erzählen kann, kann ich | |
| es auch. Das ist wie mit einem Shakespeare-Stück … | |
| … der Macbeth-Schauspieler muss im richtigen Leben kein Mörder sein? | |
| Genau. Wenn er Talent hat, kann er’s trotzdem spielen. | |
| Talent kann man aber nicht trainieren. | |
| Man kann vielleicht nicht trainieren, sich Schmerz vorzustellen, aber man | |
| kann jemanden dazu ermutigen, es zu versuchen. Manche Musiker verlieren | |
| sich in den technischen Aspekten. Für mich ist das ein bisschen wie | |
| Eiskunstlauf: Klar gibt’s den technischen Aspekt. Und die Olympia-Juroren | |
| geben die besten Noten für Sprünge wie den dreifachen Rittberger oder so. | |
| Aber beim Publikum kommen die am besten an, die mit artistischer Schönheit | |
| glänzen – und dazu noch richtig landen. | |
| Die 3. Chopin-Etüde in E, die Ihnen Ihre Lehrerin damals mitgebracht hat, | |
| um zu beweisen, dass Übungsstücke schön sein können, war auf grünes Papier | |
| gedruckt. Sie nennen sie deshalb die grüne Etüde. | |
| Für mich ist das auf immer miteinander verbunden, die Farbe Grün und dieses | |
| Stück. Ist ein wenig wie Synästhesie. | |
| Sehen Sie Farben, wenn Sie Musik hören? | |
| Das nicht. Aber man stellt Verbindungen her. Dur-Tonarten sind für mich | |
| grün. | |
| Moll hat keine Farbe? | |
| Blau könnte Dur oder Moll sein. Ich muss nicht alles auf die gleiche Weise | |
| sehen. Manchmal sag ich: In dieser Musik steckt eine Geschichte. Dann | |
| fragen die Leute: Was für eine Geschichte? Aber ich meine keinen Plot mit | |
| Anfang, Mitte, Ende. Sondern das, was gerade passiert. | |
| Sonst würde man die Geschichte ja auch mit Worten erzählen. Es geht aber um | |
| Klang. | |
| Ich versuche immer, das Klavier wie eine menschliche Stimme klingen zu | |
| lassen. Die stärksten Momente mit dem Klavier entstehen, wenn man damit | |
| etwas anstellt, das unmöglich scheint: es wie ein ganzes Orchester klingen | |
| zu lassen. Fünf Stimmen gleichzeitig. Bei Bach geht das! Und das kann nur | |
| das Klavier. | |
| Haben Sie mal Orgel probiert? | |
| Ja, das verwirrt mich aber. Kleinere Wendungen wie auf dem Klavier sind | |
| damit unmöglich. | |
| Cembalo? | |
| Auch sehr anders. Extrem! | |
| Sie spielen gern Chopins erstes Klavierkonzert. Chopin schrieb das, als er | |
| so alt war wie Sie jetzt: zwanzig. Gehören Jugend und Revolution zusammen? | |
| Dass er so was in meinem Alter geschrieben hat! Ein unglaubliches | |
| Mysterium. Ich stand mit Orchestern auf der Bühne, seit ich zehn bin. Ich | |
| war für die damals bloß ein kleines Kind. | |
| Wann hat sich das geändert? | |
| Als es an die Musik ging. Plötzlich haben die Leute Respekt vor dir. Auch | |
| wenn die Musiker über vierzig sind und der Dirigent fünfzig ist. | |
| Wie steht’ s um die Beziehung zu Ihrem Klavier zu Hause? | |
| Mein Steinway zu Hause heißt Sebastian. | |
| Sie sehen sich nicht oft. | |
| Nein, ich schaffe es nicht so oft nach Hause. Aber ich habe eine besondere | |
| Beziehung mit ihm. Das Ding mit den Konzerthallen ist: Klar muss ich mich | |
| jedes Mal an die Flügel dort anpassen. Und manche sind wirklich nicht | |
| ideal. Trotzdem muss man mit diesen Instrumenten zurechtkommen wie mit | |
| einem Freund: Man muss die Stärken kennen. Und man muss die Schwächen | |
| kennen. | |
| Klaviere haben sich verändert mit der Zeit, es wird auch anders gespielt | |
| als früher. Macht Sie das nostalgisch? | |
| Nein, ich finde das Klavier ganz wunderbar, wie es heute ist. Es gibt ja | |
| auch keinen Grund, ein Formel-1-Rennen mit Autos aus dem 19. Jahrhundert zu | |
| veranstalten. Vielleicht ist das interessant, so was zu sehen. Aber viel | |
| interessanter ist es doch, Autos, die über 200 km/h fahren, zu sehen. | |
| Ähnlich verhält es sich mit den Konzerthallen? | |
| Manchmal mag ich intime Settings. Das heißt aber nicht, dass in der | |
| Berliner Philharmonie vor 2.440 Menschen zu spielen schlechter wäre. Es ist | |
| anders. | |
| Manche sagen, verschiedene Tonarten hätten verschiedene Eigenschaften. Was | |
| denken Sie? | |
| Ich würde ein Stück niemals in eine andere Tonart umschreiben. Chopins | |
| erstes Klavierkonzert steht in E-Moll und so soll es auch sein. Es gibt | |
| Details, die nur in E-Moll funktionieren. | |
| Hat jede Tonart ihr eigenes Gefühl? | |
| Hängt davon ab, was der Komponist daraus macht. Chopin stellt mit einer | |
| Tonart was anderes an als Beethoven oder Mozart. | |
| Man könnte bei Chopins erstem Klavierkonzert böswillig sagen: Das Orchester | |
| ist Deko. Bei Beethoven ist das anders, da streiten Klavier und Orchester | |
| miteinander. | |
| Klar, wenn man Beethoven das Orchester nimmt, bleibt vom Klavier nicht viel | |
| übrig. | |
| Bei Beethovens Klavierkonzert Nr. 4 startet man als Pianist aus dem Nichts. | |
| Das ist unglaublich herausfordernd. Man kommt gerade auf die Bühne und soll | |
| schon magisch sein. | |
| Chopins erstes Klavierkonzert könnten Sie solo spielen. | |
| Das hab ich auch schon, das Stück gibt es her. Aber das Orchester mischt | |
| Farbe hinzu, Emotion, Textur. Ist es Deko? Bestimmt, aber ich bin an vielen | |
| Stellen auch bloß Deko! Vielleicht wäre es wichtig zu wissen, wann man Deko | |
| ist und wann nicht. | |
| Als Orchestermusiker kann man kein Egomusiker sein, man muss auf die | |
| anderen Stimmen hören. Wie halten Sie sich ruhig, während Sie auf Ihren | |
| Einsatz warten? | |
| Zu einem gewissen Grad bin ich immer aufgeregt. Aber man weiß ja, wie’s | |
| läuft. Man macht es nicht zum ersten Mal. | |
| Also haben Sie kein Ritual? | |
| Wie Bananen essen? Nein. Ich versuche, schöne Tage zu verbringen, wenn | |
| abends Konzerte anstehen. | |
| Und abends tragen Sie dann Fliege. | |
| Ja. Die Fliege bringt Spaß. Männer können optisch so wenig machen auf der | |
| Bühne. Aber ich will doch was von der Farbe, nach der ich mich fühle. Und | |
| wissen Sie was? Farbe schaffe ich nicht nur mit der Fliege, sondern auch | |
| mit meinen Socken. Ansonsten steh ich ja auf den Klassik-Look auf der | |
| Bühne. | |
| Nerven Sie manche Klassik-Regeln nicht? Etwa: Dass man zwischen den Sätzen | |
| nicht applaudieren soll. | |
| Es ist mir ein Rätsel, warum man bei Schumanns erstem Klavierkonzert nach | |
| dem ersten Satz nicht applaudieren sollte. Es hat ein grandioses Finale mit | |
| Trubel und Triumph! Dieser Satz war ursprünglich sogar ein Stück für sich. | |
| Es ist Tradition, dass man zwischen den Sätzen nicht klatscht, und wir | |
| haben uns dran gewöhnt. Aber ganz ehrlich: Applaus wäre doch viel toller | |
| als Husten. Ich finde, ein intelligentes Publikum applaudiert, wenn es sich | |
| danach fühlt. Ich freu mich drüber. | |
| Und Applaus wäre wohl auch toller als Handyfilmer? | |
| Wenn ich eine neue Regel aufstellen könnte, wäre das: Alles abschalten beim | |
| Konzert. Ich finde, die Leute sollten ihre Handys draußen lassen können, in | |
| Schließfächern wie für Mäntel oder Schirme. | |
| Viele wollen bei den Konzerten aber den Moment konservieren, darum | |
| fotografieren oder filmen sie. Oft heißt es: Dadurch verpassen sie den | |
| Moment. Finden Sie das auch? | |
| Ja. Beim Reisen ist das anders: Da sieht man wirklich andere Dinge, wenn | |
| man eine Kamera mit sich trägt. Beim Konzert sieht man vor allem den | |
| Screen, da denke ich mir: Leute, wenn ihr diese Videos wollt, geht doch auf | |
| YouTube, da findet ihr Hunderte. | |
| Wahrscheinlich sogar bessere als die eigenen. | |
| Ich sage übrigens nicht, dass die Künstler an Unruhe keine Schuld tragen. | |
| Es ist mein Job, die Leute mitzureißen. Und es klappt nicht immer. Stille | |
| ist ein Segen. Wenn die Menschen gebannt sind und auf jedes Detail, jede | |
| Note horchen. Diese Stille des Publikums ist sogar mehr wert als jeder | |
| Applaus. | |
| Der Applaus befreit bloß von der Spannung? | |
| Manchmal bekommen ganz beeindruckende Auftritte auch nur wenig Applaus, | |
| weil das Publikum noch so gebannt ist. Manche Enden heischen nicht groß | |
| nach Applaus. | |
| Wenn man Sie hört, merkt man aber, dass Sie gegen Ende noch mal auf volles | |
| Tempo gehen. Wie die Formel-1-Fahrer, von denen Sie sprachen. | |
| Ja, stimmt, das mag ich, wenn die Enden voller Energie sind. | |
| Schreien Sie da nicht nach Applaus? | |
| Nicht unbedingt. Chopin hat das Tempo bestimmt, nicht ich. | |
| Auftritt in der Berliner Philharmonie, im Festspielhaus Bregenz, gerade in | |
| London, als nächstes in Luzern. Was bleibt von solchen Abenden? | |
| Ein bisschen Adrenalin bleibt mir dann noch. Ein Problem ist das nicht, | |
| einsam macht es mich nicht. Ich weiß ja: Morgen mach ich’s wieder und | |
| übermorgen auch. Nach manchen Konzerten will ich grübeln, nach anderen bin | |
| ich ganz müde und will sofort schlafen. Und das hat nichts damit zu tun, ob | |
| es jetzt gut oder schlecht lief, es hat mehr mit dem Gefühl des gesamten | |
| Tages zu tun. Manche brauchen das, hinterher was trinken zu gehen. | |
| Sie nicht? | |
| Je nachdem. Abendessen mit Leuten, die ich mag, mag ich natürlich schon. | |
| Das hat dann aber meistens weniger mit dem Essen zu tun: Nach einem Konzert | |
| bin ich satt. | |
| 1 Nov 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Hochgesand | |
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