# taz.de -- Machtwechsel in Argentinien: Was bleibt, ist die Armut | |
> Die argentinische Regierung feiert die Amtszeiten der Präsidenten | |
> Kirchner als „gewonnenes Jahrzehnt“. Ein geschönter Blick. | |
Bild: Elf Millionen Argentinier leiden unter Armut. Ein Mann schläft in einer … | |
BUENOS AIRES taz | Geduldig steht Manuel Gonzales in der Schlange von Pago | |
Fácil. In der Hand hält er ein kleines Bündel Zahlungsaufforderungen: | |
Strom, Wasser, Gas. Bei Pago Fácil (Bezahlen leicht gemacht), begleichen | |
viele Argentinier ihre Rechnungen. Die Stimmung ist gut, man schwatzt. | |
„Hier“, Manuel zeigt auf seine Stromrechnung: 175 Peso müsste der junge | |
Mann bezahlen. Tatsächlich sind nur 39 Peso fällig. 136 Peso schießt der | |
Staat zu. „Genauso ist es bei Gas und Wasser, alles subventioniert“, sagt | |
der Student. | |
Rückblende: Auf dem Höhepunkt der schlimmsten Wirtschaftskrise in der | |
Geschichte des Landes gingen im Dezember 2001 Tausende auf die Straße. Sie | |
trommelten gegen die verrammelten Fassaden der Banken und jagten den | |
damaligen Präsidenten Fernando de la Rúa aus dem Amt. | |
Im Januar 2002 erklärte der neu eingesetzte Präsident Eduardo Duhalde das | |
Land für zahlungsunfähig. Die Wirtschaft schrumpfte um dramatische 11 | |
Prozent. Rund die Hälfte der 40 Millionen zählenden Bevölkerung rutschte | |
unter die Armutsgrenze, jeder Fünfte war arbeitslos. Heerscharen von | |
Cartoneros, Papiersammlern, zogen nachts durch die großen Städte und | |
durchsuchten den Müll nach Verwertbarem. In zahllosen Volksküchen bekamen | |
viele ihre einzige warme Mahlzeit und Kinder ihren einzigen Becher Milch am | |
Tag. | |
Die Subventionen für Energie und Wasser wurden von der Regierung Kirchner | |
eingeführt. „Damit wir nicht noch tiefer abrutschen“, erinnert sich Manuel | |
Gonzales. Damals war er zwölf Jahre alt. „Heute glaubt eine ganze | |
Generation, Strom und Wasser gebe es fast umsonst.“ | |
Seit 2003 trägt das Staatsoberhaupt den Nachnamen Kirchner. Von 2003 bis | |
2007 war es Néstor, danach seine Frau Cristina. Sie übernahm das Amt nach | |
seinem überraschenden Tod im Dezember 2010. Cristina Kirchners zweite | |
Amtszeit endet am 10. Dezember. Die Verfassung verbietet eine dritte in | |
Folge. Am Sonntag wird ihr Nachfolger gewählt. „Für viele Argentinier haben | |
die Kirchners das Land aus der Krise geführt, da kann die Opposition | |
meckern wie sie will“, sagt Manuel Gonzales, der an der Universität von | |
Buenos Aires Politik studiert. | |
Die Regierung hat die Parole von der „Década ganada“, dem gewonnenen | |
Jahrzehnt, ausgegeben. Von 2002 bis 2007 wuchs das Bruttoinlandsprodukt um | |
jährlich knapp 9 Prozent, aber dann sank es erst auf fünf und schließlich | |
auf zwei Prozent. Die Inflationsrate hielt sich ab 2002 mit jährlich unter | |
10 Prozent in Grenzen, doch im Laufe der Jahre stieg sie auf mehr als 25 | |
Prozent. Die Regierung begann die Statistik zu schönen, nach ihrer | |
Auffassung liegt sie um die 11 Prozent. | |
Zwar wird vielen die zwölf Jahre währende Kirchner-Ära in guter Erinnerung | |
bleiben. Aber noch immer lebt ein großer Teil der Bevölkerung unterhalb der | |
Armutsgrenze. Die bemisst sich nach dem Wert eines Warenkorbs mit dem | |
Notwendigsten. Nach Berechnungen der katholischen Universität in Buenos | |
Aires muss eine vierköpfige Familie über ein Einkommen von umgerechnet rund | |
650 Dollar pro Monat verfügen, um nicht als arm zu gelten. Familien mit | |
weniger als 330 Dollar im Monat gelten als extrem arm. | |
Doch es gibt Streit über die Armutsstatistik. Nach Angaben der staatlichen | |
Statistikbehörde Indec lebten im Jahr 2013 4,7 Prozent der rund 41 | |
Millionen Argentinier in Armut, das sind etwas mehr als 2 Millionen. | |
Dagegen errechneten Sozialforscher der katholischen Universität, dass rund | |
27,5 Prozent der Argentinier, also 11 Millionen, unter Armut leiden. Zwei | |
Millionen davon werden als extrem arm eingestuft. | |
## Gute Stimmung trotz Armut | |
Ursache der unterschiedlichen Zahlen ist die Inflationsrate, mit der die | |
Kaufkraft der Bevölkerung gemessen wird. Die staatliche Behörde geht von | |
einer jährlichen Inflationsrate von rund 11 Prozent aus. Die Sozialforscher | |
der katholischen Universität legen eine Inflationsrate von mehr als 25 | |
Prozent zugrunde. Daraus ergeben sich unterschiedliche Werte für das | |
notwendige Grundeinkommen, das ein Rutschen unter die Armutsgrenze | |
verhindert. | |
Trotz der Armut ist die Stimmung im Land gut. „Der Durchschnittswähler | |
meint, die Lage des Landes und die Aussichten haben sich verbessert“, sagt | |
Pablo Knopoff, Direktor des Wahlforschungsinstituts Isonomía. Aus den | |
Vorwahlen im August seien die beiden aussichtsreichen Kandidaten, der | |
Gouverneur der bevölkerungsreichsten Provinz Buenos Aires und | |
Kirchner-Favorit Daniel Scioli, und der Bürgermeister der Hauptstadt | |
Mauricio Macri gestärkt hervorgegangen. | |
Student Manuel Gonzales steht mittlerweile am Schalter und bezahlt seine | |
bezuschussten Rechnungen. „Der nächste Präsident muss an die Subventionen | |
ran“, sagt er. Die würden ein Loch in den Staatshaushalt reißen, das nicht | |
mehr zu finanzieren sei. Wer die Wahl gewinnt, traut er sich nicht | |
vorherzusagen. Wem er seine Stimme gibt, weiß er noch nicht. Nur eines hält | |
er für gewiss: Gewinnt Scioli, werden die Zuschüsse langsamer abgebaut, | |
gewinnt Macri, geht es schneller. | |
24 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Vogt | |
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