# taz.de -- Zahlentricks der Statistiker: „Das ist moderne Kaffeesatzleserei�… | |
> Anstatt sich aufzuregen, dass die Flüchtlinge einem die Arbeit wegnehmen, | |
> sollten wir lieber die Arbeitszeit für alle verkürzen, sagt der | |
> Mathematiker Gerd Bosbach. | |
Bild: Politiker und Gesundheitsfachleute benutzen grob verfälschende Zahlentri… | |
taz: Herr Bosbach, bald sollen 10 Milliarden Menschen auf der Erde leben. | |
Was sagt Ihnen diese Zahl? | |
Gerd Bosbach: Das ist eine Prognose für 2050 oder 2060, und wie bei allen | |
Langfristprognosen mit großen Unsicherheiten verbunden. Was wussten wir | |
denn 1900 über 1950 oder 1950 über 2000? Und für die Jüngeren unter den | |
Lesern: Was halten Sie davon, dass ich Sie während Bachelor- und | |
Masterstudium fünf Jahre beobachte und dann prognostiziere, wie Sie mit 75 | |
Jahren sein werden? 50-Jahres-Prognosen – leider in der politischen | |
Auseinandersetzung heute fast üblich –, sind nicht viel mehr als moderne | |
Kaffeesatzleserei. Wenn Politiker behaupten, „Deutschland für 2050 | |
zukunftsfest“ zu machen, wie dereinst Gerhard Schröder, sollten wir fragen, | |
welche heutigen Interessen er hinter nebulösen 50-Jahres-Prognosen | |
versteckt! | |
Sind Prognosen für unsere Planungen nötig? | |
Ja, sowohl privat als auch bei Entscheidungen in Wirtschaft und Politik. | |
Nur beträgt ein sinnvoller Horizont höchstens 10 bis 20 Jahre. | |
Sie sind bekannt geworden, weil Sie die Alterungsprozesse der Gesellschaft | |
und die darauf sich berufende Hiobsbotschaft von den leeren Rentenkassen | |
und den fehlenden Arbeitskräften als Lüge bezeichnen. Wieso? | |
Die Alterung stelle ich nicht infrage, die Hiobsbotschaften aber | |
entschieden. Denn schon die Grundannahmen der Demografie-Angst sind falsch. | |
Zum Beispiel? | |
Zuerst: Aus Alterung, mehr Rentnern und weniger Kindern ergibt sich keine | |
Zwangsläufigkeit von Sozialabbau. Das belegt der Blick ins letzte | |
Jahrhundert. Von 1900 bis 2000 hat sich die Lebenserwartung um über 30 | |
Jahre erhöht, haben sich die Rentnerzahlen mehr als vervierfacht. Und der | |
Kinder- und Jugendanteil an der Bevölkerung hat sich halbiert. Aus heutiger | |
Demografie-Panik-Sicht eine riesige Katastrophe. Aber in Wirklichkeit wurde | |
der Sozialstaat massiv ausgebaut, ist der materielle Wohlstand explodiert. | |
Und die viel weniger jungen Leute mussten dafür nicht mehr, sondern weniger | |
arbeiten. Aus der 60-Stundenwoche von 1900 wurde die 40-Stundenwoche in | |
2000, der Jahresurlaub verdreifachte sich. | |
Auch die Behauptung, mit der Alterung gehe es Gesellschaften schlechter, | |
ist barer Unsinn. Der Vergleich von Deutschland 1900 mit 2000 zeigt das | |
deutlich. Aber auch der internationale Vergleich junger mit alten | |
Gesellschaften widerspricht den Angstmachern. Reich sind die alten Staaten | |
wie Deutschland, Schweden, Australien und arm fast alle Staaten mit junger | |
Bevölkerung. | |
Sie finden die Demografie-Debatte, wie sie heute geführt wird, also als | |
abstrus? | |
Ja, nehmen Sie zum Beispiel den „demografisch bedingten Ärztemangel“, der | |
Politkern und Gesundheitsfachleuten gern als Erklärung – oder besser | |
Ausrede – dient. In Anspielung auf zu wenig Nachwuchs und den höheren | |
Gesundheitsbedarf älterer Leute erscheint das als selbstverständliche | |
Erklärung für heutige Probleme im Gesundheitsbereich. Dabei wird bewusst | |
oder unbewusst ausgeblendet, dass der scharfe Numerus clausus für Medizin | |
seit Jahrzehnten jungen Leuten das Medizinstudium verweigert. Ärzte gäbe es | |
genug, wenn wir bereit gewesen wären, für deren Ausbildung zu bezahlen! | |
Objektiv wirkende Zahlen verstärken also unsere Ängste? | |
War früher der Altenquotient das Schreckgespenst, so ist es heute der | |
angebliche Mangel an Arbeitskräften für die Zukunft. Dabei benutzen die | |
Angstmacher grob verfälschende Zahlentricks. Kleine, harmlose jährliche | |
Veränderungen werden zu großen Gesamtveränderungen in 50 Jahren | |
hochgerechnet; die Änderungen beim Renteneintrittsalter auf mindestens 67 | |
werden zur Dramatisierung unterschlagen; es wird „vergessen“, dass neben | |
den Älteren auch Kinder- und Jugendliche von den Erwerbstätigen ernährt | |
werden und auch, dass eine zahlenmäßig kleinere Bevölkerung weniger | |
Arbeitskräfte benötigt. Der ehrliche Statistiker rauft sich angesichts | |
solcher „Fehler“ die Haare. Allen Täuschungen ist eines gemein. Es wird nur | |
auf nackte Bevölkerungsdaten geguckt, wirtschaftliche und technische | |
Veränderungen werden komplett ausgeblendet. Eine ziemlich einfältige | |
„Demografisierung“ unserer Zukunft. | |
In der sogenannten Willkommenskultur für Flüchtlinge schwingt | |
unterschwellig immer auch das Argument mit: Deutschland braucht | |
Arbeitskräfte. Ist diese Argumentation also falsch? | |
Jetzt wird es heikel. Deshalb vorweg: Ich begrüße die Zuwanderung nach | |
Deutschland. Und wir sollten Menschen, die vor Krieg und Elend fliehen, | |
nicht nach Nutzbarkeit bewerten. Sie brauchen unsere Unterstützung und | |
werden insgesamt eine Bereicherung für unsere Gesellschaft bilden, so wie | |
die vielen Zuwanderer der letzten 70 Jahre. | |
Demografisch bedingt sind sie aber nicht nötig, da die in Deutschland | |
lebenden Menschen – Deutsche wie Ausländer – genug Arbeitskräftepotenzial | |
haben. Gucken Sie nur auf die offiziell fast 3 Millionen Arbeitslosen – | |
ohne Statistiktricks sicherlich 1 Million mehr. Jährlich schließen | |
Hunderttausende die Hochschulen erfolgreich ab. | |
Aber die Arbeitgeber sprechen doch vom Fachkräftemangel. | |
Alle scheinbaren Belege für Fachkräftemangel sind durch Statistiktricks | |
massiv aufgebauscht. Nehmen wir als Beispiel die „starke Schrumpfung“ des | |
Arbeitskräftepotenzials bis 2060 um 30 Prozent, die uns der Präsident des | |
Statistischen Bundesamts im April 2015 präsentierte. Klingt erschreckend, | |
soll es auch! Berücksichtigen wir bei dieser Schrumpfung nur den langen | |
Zeitraum, ergibt sich als Veränderung pro Jahr ein Minus von 0,76 Prozent | |
oder leichter verständlich: Durch die demografischen Veränderungen muss pro | |
Jahr auf einen von 130 Erwerbsfähigen verzichtet werden. Würde man die | |
weiteren Tricks der Rechnung – das Vergessen der Rente mit 67 und das | |
Absinken der Bevölkerungszahl – bei dem vorgestellten Zahlenmodell auch | |
noch berücksichtigen, bliebe ein demografisch bedingter Rückgang des | |
Erwerbspotenzials von jährlich 0,28 Prozent übrig, also der Verlust von | |
einer von gut 350 Arbeitskräften! Wo ist da bitte der demografisch bedingte | |
Fachkräftemangel? Selbst die angeblich dramatischen Zahlen zerbröseln bei | |
genauem Hingucken. | |
Zurück zu den Flüchtlingen . . . | |
Natürlich müssen wir denen zur Integration Arbeit anbieten. Wenn dann | |
dadurch Arbeitsplätze knapper werden, darf die Parole nicht heißen: „Die | |
nehmen uns die Arbeit weg.“ Stattdessen sollten wir das tun, was wir im | |
letzten Jahrhundert erfolgreich gemacht haben als uns „der | |
Produktivitätsfortschritt die Arbeit weggenommen“ hat, nämlich die | |
Arbeitszeit für alle zu verkürzen. Ich erinnere nur an die Verkürzung der | |
Wochenarbeitszeit von 60 auf 40 Stunden im letzten Jahrhundert. Dazu muss | |
allerdings der Widerstand der Arbeitgeber gebrochen werden, die lieber ein | |
großes Heer billiger Arbeitswilliger sehen als eine gerechte Verteilung der | |
Arbeit auf die gesamte Bevölkerung. | |
Zahlen, sagen Sie, werden instrumentalisiert. Skepsis ist also die erste | |
Bürgerpflicht? | |
Ja, natürlich! Wenn Sie bei der Bank einen Kredit beantragen, legen Sie von | |
sich aus nur die positiven Fakten vor. Finanzielle Unsicherheiten versuchen | |
Sie zu verschweigen. Genauso verhält sich Politik und Wirtschaft. Sie | |
präsentieren die zu ihren Interessen passenden Zahlen aus der großen Menge | |
der Daten, die es zu jedem Thema gibt. Und bei grafischen Darstellungen der | |
ausgewählten Ergebnisse gibt es noch viele Verschönerungsmöglichkeiten. Im | |
Gegensatz zum Bankgespräch – da weiß der Berater von Ihrer Schönfärberei | |
und bohrt nach – haben von Politik und Wirtschaft vorgelegte Daten den | |
Schein der Objektivität, erst recht, wenn die Daten von Behörden oder | |
Forschungsinstituten kommen. Dass diese im Auftrag arbeiten, wird zu selten | |
wahrgenommen. Fragen Sie bei allen Daten also zuerst nach den dahinter | |
stehenden Interessen! | |
Brauchen wir überhaupt Statistiken? | |
Aber sicher. Was machen Sie denn ohne die Betrachtung der Verkaufszahlen | |
der taz und deren Entwicklung. Auch Ihre Erhebung von Kosten und Einnahmen | |
sind Statistiken! | |
Ich persönlich hätte gern Statistiken über den Ausfall von Schulstunden | |
wegen fehlender und kranker Lehrer in NRW. Dann könnte man den Druck für | |
mehr Geld für Bildung erhöhen. Und wenn wir Flüchtlinge in Europa gerecht | |
verteilen wollen, brauchen wir für alle Länder die Daten über | |
Bevölkerungszahl, wirtschaftliche Stärke und Arbeitslosigkeit. Schon wieder | |
drei Statistiken. Oder denken Sie an Inflation, Wahlergebnisse, | |
Schadstoffausstoß, Entwicklung der Armut in Deutschland, alles wichtige | |
Statistiken. | |
Bei aller berechtigten Skepsis gegenüber vielen Statistiken, ein Lügen ohne | |
Zahlen ist noch viel leichter als ein Lügen mit Zahlen. Bei Letzterem | |
können wir die Täter erwischen, die Ergebnisse geraderücken. | |
25 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Edith Kresta | |
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