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# taz.de -- Sexuelle Belästigung in Argentinien: Schluss mit „Hey, Baby“
> Aus Protest gegen Morde an Frauen gingen Tausende auf die Straße. Nun
> will Argentiniens Kongress auch verbale Belästigung unter Strafe stellen.
Bild: Zehntausende demonstrieren vor dem Kongress in Buenos Aires gegen sexuali…
Buenos Aires ap | Wann immer Aixa Rizzo das Haus verließ, machte sie sich
gefasst auf anzügliche Bemerkungen. Tag für Tag wurde die argentinische
Studentin von Elektrikern belästigt, die in der Nachbarschaft arbeiteten.
Zunächst waren es verhaltene Bemerkungen, Applaus oder Pfiffe, wie die
20-jährige sagt. Nach ein paar Wochen wuchs sich das aus in vulgäre
Kommentare über ihre Figur und sexuelle Fantasien. Eines Tages folgten ihr
drei der Männer, bis Rizzo sie mit Pfefferspray einnebelte. Sie fluchten,
ließen sie schließlich jedoch in Frieden.
Im April stellte Rizzo ein Video über ihre Erlebnisse auf YouTube. Sie
warnte, von verbalen Aggressionen sei es oft nicht weit zu körperlichem
Missbrauch. In dem Land mit 41 Millionen Einwohnern traf die Studentin
einen Nerv: Das Video wurde von einer halben Million Menschen angesehen –
viele Frauen wissen nur zu gut, wovon Rizzo spricht. Ihre Kampagne
veranlasste Abgeordnete nun zu einer Gesetzesvorlage, die solche
Belästigungen auf der Straße unter Strafe stellt. In den nächsten Monaten
soll darüber abgestimmt werden.
Bei der Gleichstellung der Geschlechter ist Argentinien voller
Widersprüche. Zwar sind Frauen und Männer rechtlich gleichgestellt, und an
den Hochschulen studieren mehr Frauen als Männer. Auch an der Spitze des
Landes steht mit Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner eine Frau.
## Aufklärung und Geldbußen
Doch wie in vielen lateinamerikanischen Ländern herrscht eine Macho-Kultur:
Passantinnen werden mit Pfiffen oder anzüglichen Bemerkungen bedacht – von
Taxifahrern, Bauarbeitern oder Büroangestellten. „Anzügliche Kommentare
sind nur die Spitze des Eisbergs, der sich in häuslicher Gewalt
manifestiert“, sagt die Oppositions-Abgeordnete Victoria Donda, die den
Gesetzesentwurf auf den Weg gebracht hat.
Frauen könnten damit künftig sexuelle Belästigung in der Öffentlichkeit zur
Anzeige bringen. Ein Richter soll dann die Vorwürfe untersuchen, Zeugen
hören und entscheiden, ob eine Geldbuße verhängt wird. Daneben soll Geld
für eine Aufklärungskampagne über Belästigung in Schulen und am
Arbeitsplatz bereit gestellt werden.
Natürlich richtet sich das Gesetz gegen aggressive Kommentare mit sexuellen
Untertönen und nicht gegen Komplimente über schöne Haare oder Kleider. Doch
der 23-jährige Bauarbeiter Orlando Britez befürchtet, künftig bestraft zu
werden, wenn Frauen Kommentare als zu aggressiv empfinden. „Das bedeutet,
dass ich mich zurückhalten muss und nicht sagen kann, was ich wirklich
will“, sagt Britez auf einer Baustelle in der Hauptstadt Buenos Aires. „Was
ist falsch daran, wenn wir nette Dinge sagen“, fragt sein Kollege Elio
Borlio. „Dinge wie: ‚Schau mal, wie schön Du bist.‘“
## Gestiegene Gewalt gegen Frauen
Im Kongress scheint der Entwurf auf breite Zustimmung zu stoßen, auch bei
den Abgeordneten der Regierungspartei. In der Stadtverwaltung von Buenos
Aires werden derzeit zwei ähnliche Vorschläge diskutiert.
Hintergrund ist die gestiegene Gewalt gegen Frauen: Während sich die 2010
vom Obersten Gericht in Argentinien eingerichtete Meldestelle für häusliche
Gewalt im ersten Jahr noch mit 7437 Fällen befassen musste, waren es 2014
bereits 10.573 – ein Anstieg um 18 Prozent.
Auch kommen immer mehr Frauen gewaltsam zu Tode. Im vergangenen Jahr wurden
nach Angaben der Frauenhilfsorganisation Meeting House 277 Frauen getötet,
verglichen mit 208 im Jahr 2008, dem ersten Jahr der Statistik.
Eingerechnet sind Tötungen bei Vergewaltigungen und Entführungen. Täter
sind dabei Fremde oder Partner der Opfer.
## Körperkontakt als einziger Sanktionsgrund
Peru hat im März bereits ein Gesetz verabschiedet, mit dem Belästigungen
auf der Straße angezeigt werden können. Ein Richter entscheidet dann über
eine Gefängnisstrafe. Auslöser war der Fall der peruanischen Sängerin und
Schauspielerin Magaly Solier im vergangenen Jahr: Solier zeigte einen Mann
an, der in einem überfüllten Bus in Lima hinter ihr masturbiert hatte. Der
Richter lehnte eine Strafverfolgung jedoch ab. Begründung: Es habe keinen
Körperkontakt gegeben.
Auch Rizzo betont in ihrem Video, sie habe keine rechtliche Handhabe. Nach
Einsatz des Pfeffersprays wollte sie Anzeige erstatten, erhielt jedoch die
Auskunft, dass die Männer nicht angeklagt werden könnten, weil sie sie
nicht berührt hatten.
Im Facebook-Forum „Action/Respect“ gibt es viele Geschichten über Johlen,
Zischen und Geschrei auf der Straße. Auch eine im sechsten Monat schwangere
Frau berichtet von Belästigungen. Viele Frauen sind schlicht wütend: „Wenn
sie sagen ‚Nettes Lächeln‘, dann lache ich und gehe einfach weiter“, sagt
die 20-jährige Studentin Susana Godoy in Buenos Aires. „Aber ich hasse es,
wenn sie ‚Hey, Baby‘ und anderes grobes Zeug sagen.“
10 Jun 2015
## AUTOREN
Debora Rey
## TAGS
Argentinien
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Sexismus
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