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# taz.de -- „Angekommen – Flüchtlinge erzählen“: Eine ewig andauernde …
> Mein Freund saß fünf Mal in Syrien im Gefängnis. Danach war er gebrochen,
> die Haft hatte ihn zermürbt. Doch er versucht, die Fassung zu wahren.
Bild: Als Hischam die Grenze zum Libanon überquert hatte, dachte er, nichts k�…
Was hat meinen Jugendfreund Hischam wohl zu dieser Reise bewogen? Hatte er
das Paradies vor Augen? Oder wollte er der Hölle entkommen?
Ich weiß es nicht. Was ich aber weiß, ist, dass seine Reise eine harte,
kaum vorstellbare Erfahrung war, die in ihren Einzelheiten das Leid der
Syrer spiegelt.
Am Tag vor der Abreise heiratete er seine langjährige Freundin – heimlich,
wie es einem Aktivisten gebührt, der fünf Mal im syrischen Gefängnis
gesessen hat. Aus der letzten Haft war er nicht mehr aufrecht
herausgekommen, sondern gebrochen. Das Gefängnis hatte ihn am Ende doch
zermürbt.
Hischam sog an der Zigarette. Asche rieselte auf ihn herab. Aber statt sich
das Grau von der Kleidung zu klopfen, sog er unbeirrt weiter. „Ich bin
erschöpft, mein Lieber“, sagte er zu mir. „Das steht mir zu. Schließlich
bin ich ein Mensch. Ich habe das Ganze nur durchgestanden, weil ich ihr
Lächeln wiedersehen wollte. Das nächste Mal überlebe ich vielleicht nicht.
Ich habe keine Angst vor dem Tod, aber ich möchte ihr nicht noch mehr Leid
zufügen. Das Einzige, was ich jetzt will, ist, mit ihr zusammen zu sein.
Ich werde das Land verlassen.“
## Die alltägliche Tragödie
Ich hörte ihm zu und versuchte, das Bild von seiner Liebsten zu verdrängen.
Zu verdrängen, wie sie mich unter Tränen fragte: „Was meinst du, wann wird
er entlassen?“ „Morgen, ganz bestimmt, das weiß ich aus zuverlässigen
Quellen“, versicherte ich ihr.
Tag für Tag stellte sie mir die gleiche Frage. Tag für Tag log ich. Und Tag
für Tag glaubte sie mir. Wie alle Syrer brauchte sie einen Funken Hoffnung,
um die alltägliche Tragödie durchzustehen.
Am Ende verließ Hischam Syrien, obwohl er kurz davor stand, sein
Wirtschaftsstudium abzuschließen. Er ging mit dem Vorhaben, seine Frau
durch Familienzusammenführung nachzuholen. In der Tasche alles Geld, das
seine mittellose Familie zusammenkriegen konnte.
Er erreichte den Libanon nach allerlei Erniedrigungen an der syrischen
Grenze Ende August 2014. „Ich habe die übelste Grenze überhaupt passiert,
ohne verhaftet zu werden“, schrieb er mir an dem Tag. „Und nun kann mich
keine Grenze der Welt mehr aufhalten.“
Es dauerte nicht lange, und er erkannte, wie naiv seine Worte waren.
Hischam und sein Freund Ahmad machten sich auf nach Izmir in der Türkei und
bestiegen eines der Todesboote nach Patmos in der griechischen Ägais. Dort
gelandet, setzten sie ihren Weg nach Athen fort.
## Gefälschter Pass
In der griechischen Hauptstadt versuchte Hischam vier Mal, mit gefälschtem
Pass in ein Flugzeug nach Nordeuropa zu kommen. Vergebens. So beschloss er,
zusammen mit Ahmad den Landweg durch die Balkanländer zu nehmen. Sie
stiegen in einen Zug nordwärts nach Thessaloniki und kamen dort in Kontakt
mit einem Schlepper aus Bangladesch.
Hischam erzählt mir davon, als wir uns in Berlin wiedersehen. Wieder zieht
er an der Zigarette. Und wie immer, seit er aus der letzten Haft in Syrien
entlassen worden ist, rieselt Asche auf ihn herab, ohne dass er sich darum
schert. „Es war Winter“, berichtet er, „ohne Schlepper kam man nicht durch
Mazedonien.“
Von Thessaloniki ging es mit dem Auto nach Polikastro, dann zu Fuß nach
Evzonoi an der griechisch-mazedonischen Grenze und weiter nach Gevgelija in
Mazedonien. Es folgte ein 24-stündiger Fußmarsch bei äußerst schwieriger
Witterung ins Gebirge nahe Gevgelija. Von dort sollten Hischam und seine
Gefährten von einem Auto zur serbischen Grenze gebracht werden. Also
warteten sie im Wald auf den Wagen. „Nur Geduld“, sagte der Schlepper, „er
kommt heute Abend.“ Und am Abend sagte er: „Morgen früh kommt er.“
„Der Schlepper hatte keinen Grund, uns anzulügen“, sagte Hischam. „Denn …
sollte sein Geld erst bekommen, wenn wir ins Auto stiegen.“
## Die Lüge zieht sich ewig
Jedenfalls zog sich die Lüge ewig hin. Zuerst waren die Akkus der Handys
leer. Dann ging der Proviant aus, sodass sie sich von Kräutern und Beeren
ernähren mussten. Und am Ende hatten sie nicht einmal mehr Wasser. „Schluss
jetzt!“, rief Hischam nach 22 Tagen. „Ich bin nicht aus Syrien weggegangen,
um in einem gottverlassenen Wald zu krepieren. Kommt, wir gehen, bevor wir
hier verhungern und verdursten!“
Sie fanden den Weg aus dem Wald und kamen an eine Straße. Ausgemergelt und
erschöpft wie sie waren, hatten sie fast schon etwas Gespenstisches. Daher
suchten die vorbeifahrenden Autos lieber das Weite.
Am Ende hielt doch noch ein Wagen an. Der Fahrer fragte in radebrechendem
Englisch, wohin sie wollten. „Serbien“, sagten sie wie aus einem Mund,
worauf er ihnen zu verstehen gab, dass sie ihm folgen sollten.
Ängstlich gingen Hischam und seine Gefährten dem Fremden nach. Sie
erreichten einen Sandweg im Wald und liefen immer weiter, bis er sie
anwies, stehen zu bleiben. Und dann geschah das, was Hischam als „die
Katastrophe“ bezeichnet. Wie aus dem Nichts fielen Männer in Polizeiuniform
über sie her. Sie fesselten Hischam und alle anderen und warfen sie zu
Boden.
## Die Diebe wurden verhaftet
„Wir haben uns nicht gewehrt“, erklärte Hischam, „weil wir dachten, es
seien Polizisten. Sie durchsuchten uns und nahmen uns alles ab: Uhren,
Börsen und das gesamte Geld, das wir hatten. Ich dachte, sie wollten unsere
Papiere. Irgendwann begriff ich, dass die ganze Sache eine Inszenierung
war, um uns auszurauben. Aber da war es zu spät. Während wir gefesselt am
Boden lagen, machten die Männer sich aus dem Staub. Als ich es endlich
geschafft hatte, mich zu befreien, lief ich ihnen hinterher, bis mir die
Füße brannten. Vergeblich. Wieder zurück, sah ich, wie Ahmad sich vor ein
vorbeifahrendes Auto werfen, sich umbringen wollte. Ihn hatte es am
schwersten getroffen. Das Geld, das ihm gestohlen worden war, hatte seine
Familie mühsam für ihn zusammengeliehen. Ich zog ihn von der Straße, und
dann gingen wir alle zusammen zur echten Polizei. Auf der Wache wurden
unsere Aussagen aufgenommen. Anschließend baten sie mich, in einem Auto
mitzufahren, um die Diebe zu identifizieren.“
Die Polizei wusste genau, wo sie zu suchen hatte. Es dauerte nicht lange,
und Hischam erkannte einen der Männer: „Da!“, rief er. „Das ist einer von
ihnen!“ Die Diebe wurden verhaftet und dem Richter vorgeführt.
Bei der Verhandlung zwei Tage später kam es zur großen Überraschung: Die
Diebe wurden gegen eine geringe Kaution, etwa fünf Prozent des gestohlenen
Betrags, auf freien Fuß gesetzt. Gleichzeitig wurden Hischam und seine
Gefährten ins berüchtigte Gefängnis Gazi Baba geworfen.
## Sexuelle Übergriffe
Wieder rieselt Asche auf Hischams Kleidung. Er massiert sich die Schläfen,
versucht die Fassung zu bewahren, während er berichtet, was dann geschah:
„Gazi Baba ist vergleichbar mit dem syrischen Militärgeheimdienst. Wir
wurden in überfüllte Zellen gesperrt, gedemütigt und geschlagen. Auf Frauen
wurden sexuelle Übergriffe vor den Augen ihrer Ehemänner verübt. Und wer
ein Wort darüber verlor, dass er ein Oppositioneller ist, wurde von Syrern
verhört. Miese Dreckskerle! Setzen uns syrische Ermittler vor und drohen
mit Ausweisung. Und behaupten, wir seien in einem Zeugenschutz-Gefängnis.
Glaub mir, die haben uns nur freigelassen, weil wir die Anzeige gegen die
Diebe zurückgenommen haben.“
Hischam verbrachte 50 Tage in Gazi Baba. Als er freikam, erfror er fast auf
dem Weg nach Serbien. Am 17. Januar 2015 erreichte er Deutschland.
Seine Frau ist immer noch in Syrien und dort in großer Gefahr. Tag für Tag
ruft sie Hischam oder mich an und fragt, wann sie nach Deutschland kommen
kann, um bei ihm zu sein. Tag für Tag lügen wir sie an. Und wie immer
glaubt sie uns jeden Tag aufs Neue.
Aus dem Arabischen übersetzt von Leila Chammaa
9 Oct 2015
## AUTOREN
Kenan Khadaj
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