# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Shinzō Abes Verrat | |
> Japans Regierungschef will das Militär künftig auch im Ausland einsetzen. | |
> Millionen Japaner protestieren, im Parlament prügelt man sich. | |
Bild: Tumult im Parlament bei der Diskussion der Sicherheitsgesetze. | |
Kaum jemand hätte erwartet, dass siebzig Jahre nach Ende des Zweiten | |
Weltkriegs so viele Japaner für den Frieden auf die Straße gehen – von den | |
ganz Alten, die den Krieg noch mitgemacht haben, bis zu jungen Leuten, die | |
noch nicht einmal den Fall der Berliner Mauer miterlebt haben. Seit über | |
einem Jahr demonstrieren sie täglich vor dem Parlamentsgebäude, um gegen | |
den „parlamentarischen Staatsstreich“ der Regierung Abe zu protestieren. | |
Die Mobilisierung ging trotz der extremen Hitze dieses Sommers weiter: Am | |
18. Juli kamen über 1 Million Menschen zusammen. | |
Der Premierminister will eine Militärreform verabschieden lassen, die der | |
japanischen Armee (offiziell Selbstverteidigungsstreitkräfte genannt) die | |
Beteiligung auch an Operationen der „kollektiven Selbstverteidigung“ | |
außerhalb des Landes gestatten, und zwar falls Japan oder einer seiner | |
Verbündeten angegriffen wird oder falls es kein anderes Mittel gibt, um das | |
Volk zu schützen. | |
[1][Der Artikel 9 der japanischen Verfassung lautet][2][Der Artikel 9 der | |
japanischen Verfassung lautet]: „In aufrichtigem Streben nach einem auf | |
Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden verzichtet | |
das japanische Volk für alle Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht | |
der Nation und auf die Androhung oder Ausübung von Gewalt als Mittel zur | |
Beilegung internationaler Streitigkeiten. Um das Ziel des vorhergehenden | |
Absatzes zu erreichen, werden keine Land-, See- und Luftstreitkräfte oder | |
sonstige Kriegsmittel unterhalten. Ein Recht des Staats zur Kriegsführung | |
wird nicht anerkannt.“ Genau dieses Recht will die Regierung Abe nun wieder | |
in Anspruch nehmen. | |
Die Verfassung kann allerdings nur mit einer Zweidrittelmehrheit in beiden | |
Kammern des Parlaments (Unterhaus und Oberhaus) geändert werden, | |
anschließend ist noch eine Volksbefragung erforderlich. Doch das | |
Kriegstrauma ist in Japan immer noch so stark ausgeprägt, dass eine | |
Zustimmung per Referendum ausgeschlossen scheint. Deshalb hat Shinzō Abe | |
lange gezögert, den Wortlaut von Artikel 9 zu verändern. Während seiner | |
ersten Amtszeit versuchte er zunächst, seinen Entscheidungsspielraum im | |
Parlament dadurch zu erweitern, dass „Verfassungsänderungen“ nach Artikel | |
96 auch mit einfacher Mehrheit verabschiedet werden können. | |
Nachdem er damit nicht durchkam, vollzog er mittels mehrerer | |
Sicherheitsgesetze eine „Neuinterpretation“ von Artikel 9, die in Wahrheit | |
dessen Aufhebung darstellt. Das bewertet der Verfassungsrechtler Yoichi | |
Higuchi als „Verrat an der Verfassung und Verrat an der Geschichte“. Die | |
meisten seiner Kollegen teilen diese Einschätzung: Bei einer Umfrage des | |
öffentlich-rechtlichen TV-Senders NHK vom Juni dieses Jahres hielten 90 | |
Prozent der angesprochenen Staatsrechtler Abes Projekt der „kollektiven | |
Selbstverteidigung“ für „verfassungswidrig“. | |
## Streit über Verfassungsänderung | |
Obwohl es sogar in den Reihen der regierenden Liberaldemokraten (LDP) | |
Widerstand gab, wurde die Reform am 16. Juli im Unterhaus verabschiedet. | |
Selbst wenn das Oberhaus dagegen stimmt, hat das Unterhaus das letzte Wort | |
und kann das Gesetz mit Zweidrittelmehrheit in Kraft setzen. Daher hat Abe | |
die Parlamentsperiode bis zum 27. September verlängert. Aber seine | |
Beliebtheit ist mittlerweile auf einen historischen Tiefstand gefallen. | |
Eine Ende Juli durchgeführte Umfrage der Wirtschaftszeitung Nikkei ergab, | |
dass 57 Prozent der Befragten gegen die Verabschiedung der Militärreform in | |
einer gewöhnlichen Parlamentssitzung sind und nur 26 Prozent dafür. 50 | |
Prozent lehnten Abes Politik insgesamt ab, nur 38 Prozent unterstützten | |
ihn. | |
Die anhaltenden Proteste erinnern an die Demonstrationen gegen die | |
Ratifizierung des amerikanisch-japanischen Kooperations- und | |
Sicherheitsvertrags (der eine Verstärkung des Militärs brachte) im Jahr | |
1960, unter deren Druck der damalige Ministerpräsident Nobusuke Kishi – | |
übrigens Shinzō Abes Großvater – zurücktreten musste. | |
Allerdings unterscheidet sich der heutige Widerstand in mehrfacher Hinsicht | |
von den Protesten vor 55 Jahren. Während es sich heute um eine breite | |
Bewegung mit starker Beteiligung in der Hauptstadt Tokio wie auch in den | |
anderen großen Städten handelt, wurden die Proteste von 1960 hauptsächlich | |
von Studenten initiiert und getragen, deren Dachverband Zengakuren in der | |
Regel von den Oppositionsparteien und den großen Gewerkschaften unterstützt | |
wurde. Damals glaubten viele der Demonstranten, die sich so manche Schlacht | |
mit den Ordnungskräften lieferten, noch an eine rosige Zukunft und an den | |
Sozialismus. | |
Die Demonstranten von heute dagegen sind gewaltlos, sie sorgen sich einfach | |
um ihre Demokratie, und ihre Protestformen sind vielfältiger und | |
friedlicher, mit Trommeln, originellen Kostümen und witzigen, intelligenten | |
Slogans. Sie kämpfen gegen die neuen Gesetze wie auch gegen die Art, mit | |
der die Regierung sie durchboxen will. Viele der jungen Leute wurden durch | |
das Beben und den Tsunami vom 11. März 2011 und die Havarie von Fukushima | |
traumatisiert. Sie fühlen sich als eine neue Generation, für die „es keine | |
glückliche Zukunft gibt“, erklärt uns Aiki Okuda, einer der führenden | |
Aktivisten der Studentengruppe Seald (Students Emergency Action for Liberal | |
Democracy). | |
Viele sehen in der Militärreform einen weiteren Schritt in Richtung jenes | |
„schönen Landes“, das Abe in einem Buch dieses Titel als seine große | |
gesellschaftliche Vision beschreibt. Dazu gehört auch eine grundlegende, | |
stark nationalistisch gefärbte Bildungsreform mit dem Ziel, „die Liebe zum | |
Vaterland“ zu stärken, und das Gesetz zum „Schutz der Staatsgeheimnisse“ | |
vom Dezember 2013, das die Bürger- und Freiheitsrechte im Namen des Kampfes | |
gegen „innere Feinde“ einschränkt. | |
## Konservativer Traum | |
Der Regierungschef möchte also den alten Traum der Konservativen | |
verwirklichen und endlich jene Verfassung loswerden, die den Japanern nach | |
der Niederlage im Pazifikkrieg von der US-Besatzungsmacht diktiert worden | |
war. Für Abe ist dies ein notwendiger Schritt in einer Entwicklung, an | |
deren Ende Japan wieder souverän, das heißt ein „normales Land“ sein soll. | |
Diese Vision ignoriert allerdings die historischen Umstände, die das Japan | |
der Nachkriegszeit geprägt haben. Im Verlauf des Kriegs starben in Japan | |
über 3 Millionen Menschen, unter ihnen die Opfer der Atombomben von | |
Hiroschima und Nagasaki; dazu kommen noch zig Millionen Japaner, die in | |
anderen asiatischen Ländern und aufseiten der Alliierten umgekommen sind. | |
Die Verfassung von 1947 wurde zwar von den Amerikanern geschrieben, aber | |
sie war von der Bevölkerung gewollt, die kriegsmüde war und auf dem Recht | |
bestand, künftig in Frieden zu leben. | |
Mit den neuen Sicherheitsgesetzen wird Japan natürlich keineswegs | |
unabhängiger von den USA. Im Gegenteil: Das Land wird verpflichtet sein, | |
den Bündnispartner USA in der ganzen Welt zu unterstützen. Zumal Abe bei | |
seinem Besuch in Washington im Mai bereits einer „Umwandlung des | |
amerikanisch-japanischen Bündnisses“ in Sinne einer stärkeren | |
Zusammenarbeit zugestimmt hat. „Ohne den Artikel 9 hätte die japanische | |
Regierung auch niemals Nein zum Irakkrieg sagen können“, erläutert Higuchi. | |
Die Präambel der Verfassung beginnt mit den Worten: „Wir, das japanische | |
Volk, [...] entschlossen, [...] nie wieder durch Handlungen der Regierung | |
von den Gräueln eines Krieges heimgesucht zu werden, erklären hiermit, dass | |
die souveräne Macht beim Volke ruht.“ Im selben Geist formuliert die Charta | |
der Vereinten Nationen, die ebenfalls angesichts der Ruinen des Zweitens | |
Weltkriegs verabschiedet wurde, das Ziel, künftige „Geschlechter vor der | |
Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares | |
Leid über die Menschheit gebracht hat“. | |
Manche ausländischen Beobachter und manche japanischen Politiker halten | |
eine solche pazifistische Verfassung heutzutage für naiv, für überholt oder | |
gar für idealistisch. Aber gerade heute stellt sich die Frage, ob es | |
angesichts der aktuellen Weltlage nicht für ganz Asien von Vorteil wäre, | |
wenn der Pazifismus der japanischen Verfassung zur internationalen Norm | |
erhoben würde. Statt sich wie Abe auf militärische Spielereien einzulassen, | |
die zu künftigen bewaffneten Konflikten führen können. | |
27 Sep 2015 | |
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[1] http://web.archive.org/web/20070516090909/www.cx.unibe.ch/~ruetsche/japan/J… | |
[2] http://web.archive.org/web/20070516090909/www.cx.unibe.ch/~ruetsche/japan/J… | |
## AUTOREN | |
Katsumata Makoto | |
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