# taz.de -- Illegale Fluchthilfe: Die Grenzbrecher | |
> Menschen illegal nach Deutschland zu bringen, ist strafbar. Hunderte | |
> private Fluchthelfer sind trotzdem unterwegs. | |
Bild: Polizeikontrolle auf dem Weg nach Freilassing | |
Als Volker Köster* an diesem ersten Samstagabend im September in Budapest | |
aufbricht, ist er sich noch nicht ganz sicher, wie er es heute Nacht am | |
besten anstellen soll. Er sitzt am Steuer eines schwarzen Mietwagens mit | |
Metalliclackierung, geliehen von Avis, der Innenraum des Autos riecht nach | |
Neuwagen. Neben ihm, auf dem Beifahrersitz, sitzt ein Freund, der | |
mitgekommen ist. | |
Volker Köster ist ein stämmiger Mann mit Kurzhaarfrisur und einem gütigen | |
Bärenlächeln. Er raucht in diesen Tagen sehr viel und bestellt | |
überdurchschnittlich oft Filterkaffee in Pappbechern. Sein Wegbegleiter ist | |
ein dünner, freundlicher Herr mit langem, lockigen Haar. Es wird langsam | |
dunkel. Köster fährt jetzt einfach erst mal los, über die Donaubrücke aus | |
der Stadt hinaus, Richtung Österreich. | |
In dieser Nacht will er zum Fluchthelfer werden. Er ist aus Berlin | |
angereist, mit einem klaren Ziel: Flüchtenden in Ungarn über die Grenze | |
nach Österreich und Deutschland zu helfen. Das ist in Österreich eine | |
Ordnungswidrigkeit, in Deutschland ist es eine Straftat. Wer Ausländern | |
wiederholt oder in mehreren Fällen hilft, illegal nach Deutschland | |
einzureisen, muss mit bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug rechnen, so sagt | |
es das Gesetz. Wer organisiert handelt, kann für bis zu zehn Jahre ins | |
Gefängnis wandern. Auch der Versuch ist strafbar. | |
Einige Wochen ist es erst her, es war Ende Juli, als eine kleine Berliner | |
Initiative öffentlich dazu aufrief, aktive Fluchthilfe zu leisten. | |
Aktivisten des sogenannten Peng-Kollektivs setzten eine Homepage auf, auf | |
der sie Tipps für das private Schleusen gaben. Kurz zuvor hatte die | |
deutsche Regierung den Kampf gegen Schlepper wieder zur obersten Priorität | |
erklärt. | |
## Ein bisschen Rumfahren | |
Keine zwei Monate sind vergangen und es scheint, als sei dieses Deutschland | |
in kurzer Zeit ein anderes geworden. Hunderte Menschen sind in diesen Tagen | |
und Nächten mit Privatautos und Mietwagen in serbischen, ungarischen, | |
österreichischen und deutschen Grenzgebieten unterwegs. Teils fahren sie | |
allein, teils in Konvois organisiert. Sie verlangen kein Geld dafür. | |
Das Repertoire dieser neuen Fluchthelfer ist breit gefächert. Manche | |
begnügen sich damit, Flüchtlinge an der österreichischen Grenze zu Ungarn | |
abzuholen und nach Wien zu bringen, teils fahren sie mehrfach täglich hin | |
und her. Das ist legal, eine Art Shuttleservice. Andere versuchen, | |
Flüchtlingsgruppen direkt in Serbien, Ungarn oder Österreich aufzugreifen | |
und im eigenen Auto auf direktem Wege nach Deutschland zu bringen. Wer das | |
Risiko mindern will, erwischt zu werden, setzt seine Fahrgäste kurz vor der | |
Grenze aus, lässt sie zu Fuß passieren, und sammelt sie anschließend wieder | |
ein. | |
Als Anfang der Woche rund 50 Personen in einem privaten Pkw-Konvoi aus | |
Leipzig, Jena und Dresden nach Österreich aufbrachen, sammelten sie am | |
Westbahnhof in Wien dutzende Menschen auf. „Konvoi der Hoffnung“ nennen sie | |
sich. | |
An der Autobahnraststätte Lindach auf der A 1 setzten sich alle gemeinsam | |
auf den Boden und berieten gemeinsam, wie es weitergehen soll. Insgesamt | |
ist die Lage unübersichtlich, seitdem am Sonntag die Grenze verstärkt | |
kontrolliert wird. Der Konvoi fuhr den österreich-deutschen Grenzübergang | |
Freilassung an, ließen auf österreichischer Seite die Flüchtlinge raus und | |
geleiteten sie zu Fuß über die Grenze nach Deutschland. So machten sich die | |
Chauffeure nicht der direkten Schleusung schuldig. | |
## Ziel ihrer Wahl | |
Volker Köster geht weiter. Er sammelt seine Gäste in Ungarn oder Österreich | |
ein, fragt, wo sie hinwollen, und bringt sie dann direkt zu den Zielen | |
ihrer Wahl. Zwei Wochenenden hat er nun so verbracht. Einmal fuhr er nach | |
Bremen, einmal nach Bamberg. Köster glaubt nicht, dass ihn derzeit wirklich | |
jemand aufhält. | |
Volker Köster ist Softwareentwickler, 38 Jahre alt und lebt mit seiner Frau | |
in Berlin. An den Wochenenden hat er Zeit. „Geld“, sagt er, „ist nicht das | |
Problem. Mietwagen und Mastercard sind im Moment die Währungen der Wahl.“ | |
Wie wurde Köster zum Fluchthelfer? | |
Er sitzt, wie so oft in der Woche, vor seinem Computer. Als er in der | |
ersten Septemberwoche via Twitter verfolgt, welche Szenen sich in Ungarn | |
abspielen, beschließt er, noch am Wochenende spontan hinzufahren und | |
Fluchthilfe zu leisten. Er sagt: „Wie dort mit den Flüchtlingen umgegangen | |
wird, ist mir einfach zu heftig.“ | |
Und so kommt er an jenem Samstag also gegen Mitternacht mit drei freien | |
Plätzen auf der Rückbank seines Mietwagens in Hegyeshalom an, einem | |
ungarischen Ort, nah an der Grenze zu Österreich. Er sucht aktiv nach | |
Flüchtenden, die nach Deutschland wollen. Er fährt über die Landstraßen, | |
dann, in der Dunkelheit, sieht er eine große Menge Menschen auf der Straße | |
sitzen, auch Polizei ist da. Köster ist unsicher. Über Ungarns Polizei hat | |
er viel Schlechtes gelesen. In Ungarn festgenommen zu werden, will er nicht | |
riskieren. | |
## Nachtfahrt ohne Worte | |
Er hält sein Auto an, steigt aus und fragt einen Polizisten auf Englisch: | |
„Was passiert, wenn ich ein paar Flüchtlinge mitnehme?“ Der Polizist | |
antwortet: „Bitte fahren Sie vorsichtig, da vorn sind Menschen auf der | |
Straße.“ Köster hakt nach: „Das sehe ich. Aber was passiert, wenn ich ein | |
paar von denen mitnehme?“ Der Polizist zuckt mit den Schultern und lächelt | |
ihn an. Köster fasst es als Freibrief auf. Es wird seine erste Schleusung. | |
Als er seinen Motor startet, befinden sich drei Menschen auf dem Rücksitz | |
seines Autos. Es sind zwei Männer und eine Frau, alle etwa 30 Jahre alt, | |
sie stammen aus Aleppo in Syrien, einer von Bomben und Fassbomben | |
zerstörten Stadt. Sie wollen zu Verwandten nach Bremen. | |
Es wird eine Nachtfahrt ohne viele Worte. Die meiste Zeit schlafen seine | |
drei Fahrgäste hinten auf der Rückbank. Auch Köster fallen immer wieder die | |
Augen zu. Er trinkt Kaffee, Cola, Red Bull. Als sie am Morgen ankommen, | |
machen sie zusammen ein Gruppenfoto, auf dem alle lachen. Die junge Frau | |
formt mit ihrer linken Hand ein Siegeszeichen. Dann fährt Köster mit seinem | |
Gefährten zurück nach Berlin und schläft sich aus. Am nächsten Tag | |
beschließt er: Er wird wieder fahren. Dann aber richtig. | |
In den folgenden Tagen baut er mit Freunden eine technische Infrastruktur | |
auf. Er nennt es „Backoffice“. Wenn Fluchthelfer unterwegs sind, denkt | |
Köster, müssen sie dabei mit Informationen versorgt werden. Wie ist die | |
Situation an der Grenze? Wie ist die Straßenlage? Was heißt „kostenlos“ a… | |
Arabisch? Und wenn doch etwas schiefgeht: Welcher Anwalt steht auch nachts | |
noch zur Verfügung? | |
Als er am folgenden Wochenende zum zweiten Mal fährt, mietet er einen | |
Kleinbus mit sieben Sitzen. Er wählt ein Auto mit abgedunkelten Scheiben, | |
freier Fahrerwahl, Kindersitzen und ohne Kilometerlimitierung. Das Auto | |
kostet für das Wochenende 158 Euro und nicht, wie bei der ersten Tour, als | |
er spontan aufbrach, 740 Euro. Auf der Hinfahrt nimmt er im Kofferraum | |
einen Stromtransformator, dutzende Dreiersteckdosen und ein paar mobile | |
Ladegeräte mit, er fährt nach Röszke, im Grenzgebiet zu Serbien. Die | |
Rückfahrt – Ziel Bamberg – verläuft wieder ohne Probleme. | |
## Ein bisschen Verständnis | |
„Mir hat noch nie ein Polizist erlaubt, eine Straftat zu begehen“, sagt | |
Volker Köster. „Aber an beiden Wochenende, an denen ich durch die | |
Grenzgebiete unterwegs war, bin ich auch kein einziges Mal daran gehindert | |
worden, ein Gesetz zu übertreten.“ Inzwischen war Köster in Budapest am | |
Bahnhof Keleti, er war in Győr, in Hegyeshalom, in Rözske und Nickelsdorf, | |
den Orten, die in den letzten Wochen Geschichte schrieben. Überall sah er | |
Flüchtlinge, die unter den Augen von Polizisten in Autos stiegen, sagt er. | |
Das sind Kösters Erfahrungen. Andere AktivistInnen berichten von Festnahmen | |
in Ungarn, Verhören, jedoch ohne eine Strafanzeige als Folge. Köster sagt, | |
wenn ein missmutiger Staatsanwalt ihn vor Gericht bringen würde, wäre der | |
Ausgang des Verfahrens durchaus offen. Er glaubt, dass jeder sein | |
humanitäres Motiv verstehen würde. Aber wer weiß das schon? | |
Als vor einigen Tagen der österreichische Landespolizeidirektor des | |
Burgenlandes, Hans Peter Doskozil, vor eine Kamera der ARD trat, sagte | |
dieser wörtlich: „In den vergangenen Tagen haben wir hier 30.000 Menschen | |
durchgeschleust.“ Ein paar von denen fuhren auch mit Köster. | |
* Name von der Redaktion geändert | |
18 Sep 2015 | |
## AUTOREN | |
Martin Kaul | |
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