# taz.de -- Kolumne Generation Camper: Vagabund, Zeitschinder, Kletterer | |
> Der französische Reisejournalist Sylvain Tesson klettert auf Kirchtürme | |
> und hat ein Buch über die Unermesslichkeit der Welt geschrieben. | |
Bild: Kletterer am Turm des Bremer Doms | |
Als wir klein waren, war alles anders. Da waren die Sommerferien unendlich | |
lang. Und das eigene Stadtviertel ein großer Kontinent. Aber dann war es | |
vorbei mit der schönen Unmittelbarkeit. Weil man erwachsen geworden war. | |
Seither bemisst sich die Welt in Flugstunden. Sie ist zum Global Village | |
geschrumpft. Gäbe es nicht wenigstens den Tourismus, wäre alles noch öder … | |
Oder? Die Versuche, Zeit und Raum wieder zu dehnen, nehmen zu. Auch Sylvain | |
Tesson, französischer Reisejournalist und Literat, versucht, wie er so | |
schön sagt, „den Lauf der Stunden auf der Haut meines Lebens aufzuhalten“. | |
Tesson ist ein „Entschleuniger“. Und wie andere auf dem weiten Feld des | |
langsamen Reisens zieht er den Weg dem Ziel vor, „weil die Langsamkeit | |
Dinge enthüllt, die sich hinter der Geschwindigkeit verbergen.“ | |
Oder, noch so ein starker Satz: Weil das Wandern der „Sturzwelle der Zeit | |
die Maßeinheit des Raumes entgegenhält“. Nie, so Tesson, habe man einen | |
Nomaden in Eile gesehen. Wenn er es könnte, würde er, Tesson, gern so | |
einiges rehabilitieren. Etwa die romantischen deutschen Vagabunden, | |
„ungebunden, eine Feder am Hut, einen Grashalm zwischen den Zähnen und | |
Gedichte auf den Lippen“. | |
Sylvain Tessons Essays tragen den animierenden Titel „Kurzer Bericht von | |
der Unermesslichkeit der Welt“ (Matthes & Seitz). Eine ungewöhnliche | |
Lektüre. Poetisch und pathetisch, in Gedankensplittern und Erzählungen | |
durchmisst Tesson in 11 Kapiteln das Universum seiner Reisen. Weil das | |
Interesse an den Menschen auch den Blick freigeben kann „auf die | |
universelle Unterdrückung der einen Hälfte der Menschheit durch die andere“ | |
.Womit Tesson das Patriarchat meint, „die Allmacht des Testosterons“. | |
Ein ganzes Kapitel widmet er seinen „Grenzen des Humanismus“. Tesson | |
zitiert Jack London: „ ... dass der Unterschied zwischen Menschen und | |
Tieren darin besteht, dass die Menschen die Weibchen ihrer Art | |
misshandeln.“ Um dann um so nachhaltiger über „Wälder der Zuflucht“ zu | |
sinnieren und über das Glück, je nach Wetterlage, in freier Natur und beim | |
Wandern Hesse oder Hugo zu rezitieren. Und sich dabei innerlich so lange zu | |
dehnen und zu strecken, bis es wieder da ist, dieses gute alte Gefühl vom | |
richtigen Da-sein. | |
Im spannendsten Bericht geht er gar die Höhe an. Es ist eine Geschichte aus | |
seiner Zeit als „Kathedralenkletterer“ und den Erkundungen der „Feengärt… | |
in den luftigen Höhen. Nächtens, so erzählt Tesson, sei er häufig mit einer | |
Gruppe Akrobaten auf den gotischen „Steinschiffen“ europäischer Städte | |
unterwegs gewesen. Auf Notre Dame, den Kathedralen von Reims und Arles, dem | |
Straßburger Münster und vielen anderen. „So entwarfen wir, auf einer | |
höheren Ebene, eine geografische Paralleldarstellung der französischen | |
Städte – eine Geografie der Leere mit ihrem Ozean aus Dächern.“ Auf solche | |
Ideen muss man erst einmal kommen! | |
23 Aug 2015 | |
## AUTOREN | |
Christel Burghoff | |
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