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# taz.de -- Nahostkonflikt und Gentrifizierung: Das Heilige und der Müll
> Man kann den Nahostkonflikt auch als Geschichte der Gentrifizierung
> erzählen: Das macht das In-House Festival in Jerusalem spannend.
Bild: Im Frauenzentrum von Um Sami im arabischen Viertel Scharafat.
Die goldene Kuppel des Felsendoms glitzert weithin sichtbar im grellen
Licht der Sonne. Die Tour Guides erzählen, dass König Hussein von Jordanien
vor Jahrzehnten eines seiner Londoner Luxusapartments verkaufte, um die
Kuppel wieder mit echtem Gold zu verkleiden. Und Geschichte sei das, was
die Tour Guides erzählen, sagt unser Tour Guide lachend.
Der Felsen, den der Felsendom wie einen teuren Diamant umrahmt, ist laut
jüdischer Tradition der in den Schöpfungsgeschichte erwähnte Ort, auf dem
Gott das Universum errichtet hat. Das sah auch Prophet Mohammed so,
weswegen die muslimischen Herrscher der Stadt im siebten Jahrhundert erst
den Felsendom und wenige Jahre später die Al-Aksa- Moschee errichteten.
Was die Muslime „das edle Heiligtum“ und die Juden den „Tempelberg“ nen…
ist eine gewaltige Plattform, die Herodes errichten ließ, um den Tempel
vergrößern zu können. In der byzantinischen Zeit nutzte man die Plattform
als Müllkippe, um zu bekräftigen, dass Jesus die Zerstörung des Tempels
vorhergesagt hatte.
Morgens zwischen sieben und zehn Uhr ist Besuchszeit für nichtmuslimische
Touristen. Still liegt der Platz da, bis eine kleine Gruppe religiöser
Juden die Plattform betritt, begleitet von israelischen Polizisten und
Sicherheitspersonal des Waqf, der für die heiligen muslimischen Orte
zuständigen Behörde. Die Extremisten wollen auf Herodes’ Plattform den
dritten jüdischen Tempel errichten. Sie werden mit lauten
Allahu-Akbar-Rufen empfangen.
## Symbolische Barrikade
Aktivistinnen in schwarzen Burkas bauen eine symbolische Barrikade aus
Mülltonnen, die die Polizei gleich wieder wegräumt. Das Theaterstück, das
hier tagtäglich aufgeführt wird, folgt einem Skript, auf das sich die
Beteiligten geeinigt haben. Manchmal schlägt es in Gewalt um. Vor einer
Woche konnte die Polizei palästinensische Jugendliche noch davon abhalten,
Molotowcocktails auf den Platz vor der Klagemauer zu werfen.
Jerusalem ist eine Provinzstadt am Rand der zivilisierten Welt, die
Gläubige aber für deren Zentrum halten. Ein Ort, wo ein Felsen mal das
Heiligste des Heiligen, mal ein Ort für Abfall ist, wo Extremisten ihre
Taten zur gottgefälligen Handlung verbrämen.
In dieser hysterische Provinzstadt voller Konflikte fühlen sich Kultur und
Liberalität besonders herausgefordert. Jerusalem sei das Labor der
israelischen Gesellschaft und ihr zehn Jahre voraus, sagt Naomi
Bloch-Fortis. Sie leitet die Jerusalem Season of Culture, die mit
verschiedenen kleinen Festivals versucht, das Gemeinsame zu sehen, das die
Jerusalemer miteinander verbindet. Zur Season gehört auch das In-House
Festival, das in der vergangenen Woche stattfand. Theater heißt beim
In-House Festival, Ereignisse zu inszenieren, die Leute zusammenbringen,
die sich sonst vielleicht nicht treffen würden.
Fünf Kilometer vom Felsendom entfernt füllt sich ein staubiger Parkplatz
mit Autos. Mitarbeiterinnen des In-House Festivals haben im Schatten eines
Essigbaums einen Tisch aufgebaut. Sie helfen den Besuchern eine App fürs
Smartphone herunterzuladen, händigen Kopfhörer und eine Karte für die Tour
aus. „HaKol Galui“ heißt das interaktive Hörstück, an dem wir teilnehmen,
auf Deutsch würde man vielleicht sagen: „Alles kommt auf den Tisch“.
An die Hängen des Tals am Eingang der Stadt schmiegen sich die verlassenen
Häuser des arabischen Dorfs Lifta. Wir steigen den Berg hinunter. Wo ein
rotes Kreuz aus Klebebändern zu sehen ist, spielt die App den zum Ort
gehörigen Teil des Hörspiels ab. Es sind Geschichten, die die leeren Häuser
nicht erzählen.
## Wellen der Vertreibung
1948 wurden die arabischen Einwohner vertrieben. In den Fünfzigern brachte
man jüdische Einwanderer aus Jemen und Kurdistan hier unter. In den
Siebzigern warf man auch sie aus den Häusern. Die Stadt wollte nichts
investieren, außerdem zogen die Bodenpreise an. Man schlug Löcher in die
Dächer, um sie unbewohnbar zu machen. Inzwischen ist Bebauungsplan 6036 der
israelischen Landbehörde in Kraft, der ein exklusives Wohnviertel mit
Shoppingcentern und Hotels in Lifta vorsieht. Teile der Häuser sollen in
schicke Neubauten integriert werden.
Die gewaltvolle Geschichte des Landes ziert als pittoresker Rest die
Behausungen der Reichen – man kann den Nahostkonflikt auch als Geschichte
der Gentrifizierung erzählen. Tel Aviv sieht inzwischen aus wie eine
chinesische Metropole im Kleinformat: Bye-bye, Bauhaus! Jedes Jahr stehen
zehn neue Hochhäuser in der Stadt. Madonna hat sich ein Apartment gekauft.
Während die Wohnungen der Superreichen die meiste Zeit leerstehen, ist es
für die Mittelklasse schwer geworden, bezahlbaren Wohnraum zu finden.
Manche Familie entscheidet sich für den subventionierten Wohnungsbau in
einer der Siedlungen hinter der Grünen Linie, auf palästinensischem
Territorium.
Als ich an die Schwelle von einem der ersten Häuser von Lifta trete, sagt
die Stimme in meinem Ohr: „Schau dir den leeren Raum vor dir an. Die Wände
sind schwarz, als hätte hier jemand Müll verbrannt. Sieh, wie die Sonne zum
Fenster hereinscheint.“ Ich tue, wie mir geheißen, und sehe im Fenster eine
dünne, alte Frau mit sonnengegerbter Haut und verfilzten Haaren auf einer
Matratze sitzen. Als sie mich sieht, steht sie auf und beginnt in ihren
Habseligkeiten zu kramen. Es ist mir so unangenehm, als würde ich
unangemeldet im Wohnzimmer von jemand stehen, den ich nicht kenne.
Lifta ist das einzige arabische Dorf innerhalb der Grünen Linie, dessen
Häuser noch stehen und das nicht bewohnt ist, abgesehen von den Squattern
und Obdachlosen, die hier unterschlüpfen. Die Stimme im Ohr fährt fort:
„Schau dir dem Fenster gegenüberliegende Wand mit den zwei Nischen an. Die
größere Nische war früher von einem Vorhang verdeckt. Dahinter gab es einen
Stapel von Matratzen, die größte lag unten. Das war die meines Vaters.
Darauf lag die meines älteren Bruders Said. Darauf die meines jüngeren
Bruders Samar und darauf meine. Die Matratze ganz oben gehörte meiner
Mutter.“
Jede der Szenen dieses Hörspiels basiert auf Recherchen einer Gruppe von
Studenten der Jerusalemer Kunst- und Designakademie Bezalel. Sie haben
unter anderem mit ehemaligen arabischen Bewohnern von Lifta gesprochen.
Einige von ihnen haben sich mit Initiativen aus Jerusalem
zusammengeschlossen, um die Ausführung von Plan 6036 zu verhindern.
## Treffpunkt für Liebespaare
Der Weg durchs verlassene Dorf Lifta führt zu einer Quelle, die ein
quadratisches Becken speist. Immer wieder kommen uns orthodoxe Familien
entgegen. Sie baden in dem kleinen Pool. Der Legende nach kommt das Wasser
direkt vom Tempelberg. Aber wie immer in dieser Stadt vermischen sich die
Legenden mit praktischen Bedürfnissen. Das Meer ist sechzig Kilometer
entfernt. Auch die Jugend von Jerusalem kommt zum Baden her. Nachts treffen
sich in Lifta Liebespaare.
Weil die Geschichte von Lifta noch nicht vorbei ist, soll die Tour auch
Ende des Festivals angeboten werden. Vier Tage dauerte das Festival, die
Spielorte sind über die ganze Stadt verteilt. Ein Konzert der Hazelnuts
gehört dazu, die alte und neue Swingtitel spielen, und ein Abend voller
Performances in einer öffentlichen Bibliothek im Zentrum.
Marlyn Venig, die einzige orthodoxe Filmkritikerin Israels, die außerdem
erotische Gedichte schreibt, empfängt Besucher in der bescheidenen Wohnung,
in der sie mit ihrem Mann und ihren sieben Kindern lebt.
Auf dem Programm steht außerdem ein Abend mit Um Sami. Sie ist Ende sechzig
und hat ein Frauenzentrum im arabischen Viertel Scharafat ins Leben
gerufen. Ein weißes Kopftuch verbirgt ihre Haare, die Augenbrauen sind
akkurat nachgezogen. Ihre Augen blitzen, wenn sie von den Schwierigkeiten
im Viertel erzählt. Es macht ihr aber mehr Spaß, ihren jüdischen Gästen von
der Liebesgeschichte ihrer Eltern zu berichten.
## Angriff auf die Gay Pride Parade
Am Tag, als das Festival zu Ende geht, versammelt sich die schwullesbische
Community im Jerusalemer Unabhängigkeitspark zur Gay Pride. Viele
Blauhemden der sozialistischen Jugendorganisationen sind zu sehen, der Rest
ist bunt. Väter und Mütter haben ihre Kinder mitgebracht, alle sind
fröhlich. Auch wenn man in dieser Stadt jederzeit auf alles gefasst sein
muss, ist schwer vorstellbar, dass eine halbe Stunde später ein
ultraorthodoxer Fanatiker mit einem Fleischermesser Teilnehmer der Parade
attackieren und verletzen wird. Eine sechzehnjähriges Mädchen wurde dabei
schwer verletzt und ist in der Folge davon gestorben.
Am nächsten Morgen verüben zwei Männer einen Brandanschlag auf eine
palästinensische Familie, ein Baby stirbt sofort, der Rest der Familie wird
schwer verletzt.
In den großen Städten werden Tags darauf Massendemonstrationen organisiert.
Der israelische Präsident Reuven Rivlin spricht vor einer großen
Regenbogenfahne in Jerusalem von jüdischen Terroristen und fragt: „Welches
Klima herrscht in einer Gesellschaft, in der sich Extremisten selbstbewusst
und in aller Öffentlichkeit bewegen können?“
Auf traurige Weise bestätigt sich, wie wichtig die Arbeit des Teams der
Jerusalem Season of Culture ist: Bündnisse über die Grenzen hinweg zu
schließen. Den Glauben der anderen zu respektieren, aber nicht den Abfall,
den er produziert.
4 Aug 2015
## AUTOREN
Ulrich Gutmair
## TAGS
Jerusalem
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