# taz.de -- Kindersoldaten in Kolumbien: Kinder werden Macht | |
> In der Kinderrepublik Benposta lernen ehemalige Kindersoldaten, ein Leben | |
> in Respekt, Verantwortung und Selbstbewusstsein zu führen. | |
Bild: Das Verwaltungsgebäude der Kinderrepublik Benposta bei Bogotá | |
BENPOSTA taz | Ana Milena legt ihren Schlüssel auf den rohen Holztisch. | |
„Puh, endlich mal Sonne“, sagt sie und setzt sich so, dass die | |
Sonnenstrahlen sie wärmen, aber nicht blenden. Die 18-Jährige ist andere | |
Temperaturen gewöhnt als in Bogotá, wo es auf 2.648 Metern oft frisch und | |
feucht ist. Das in der Nähe gelegene Dorf, in dem Ana Milena seit drei | |
Jahren lebt, liegt noch ein paar hundert Meter höher. | |
Benposta, Nación de Muchachos, steht neben dem von Backsteinmauern | |
eingefassten Eingangstor, wo es nach Pinien duftet. „Das bedeutet soviel | |
wie Kinderrepublik. Hier entscheiden wir – die Kinder und Jugendlichen“, | |
sagt Ana Milena stolz. Sie selbst war verwundert als sie vor drei Jahren | |
aus Buenaventura am Pazifik nach Bogotá kam und auf einmal mitentscheiden | |
konnte, Verantwortung übernehmen sollte, auch Streitigkeiten schlichten | |
sollte. „Als ich ankam war ich aggressiv, verunsichert, immer auf der Hut“, | |
sagt sie. Das habe sich schnell gelegt, geholfen habe ihr die | |
Auseinandersetzung mit den anderen im Haus und in „unserem Parlament“ wie | |
sie sagt und deutet auf das buntbemalte Haus auf der anderen Seite des | |
Platzes. | |
Die Wohnhäuser sind die kleinsten Einheiten in der Kinderrepublik. Sie | |
heißen Nelson Mandela, Che Guevara, Martin Luther King. Dort kümmern sich | |
von den Bewohnern gewählte Vertreter um die Neuankömmlinge. Außerdem | |
arbeiten dort Sozialarbeiter, Lehrer und eine Psychologin. Schule und | |
Ausbildung sind obligatorisch in der Kinderrepublik, es geht um | |
Perspektiven. „Ich habe hier mein Abitur gemacht und will mit dem | |
Pychologiestudium beginnen“, sagt Ana Milena und lässt eine ihrer langen | |
Korkenzieherlocken durch die Finger gleiten. | |
## „Ein Vorbild zu sein, hat mich selbstbewusster gemacht“ | |
Sie hat in Benposta gelernt selbständig zu denken und zu handeln, indem ihr | |
Aufgaben und Verantwortung übertragen wurden. Die anderen Kinder und | |
Jugendlichen haben sie gleich zu Beginn zur Verantwortlichen für Sport und | |
Unterhaltung gewählt, später war sie für die Küche zuständig, heute ist sie | |
Tutorin für die Jüngeren. „Eine Führungsfunktion einzunehmen, ein Vorbild | |
zu sein, hat mich verändert, mich selbstbewusster gemacht“, sagt sie. | |
Ana Milena stammt aus der Hafenstadt Buenaventura. Die ist verrufen für die | |
Gewaltexzesse der Paramilitärs, paracos genannt, die dort die | |
Zivilbevölkerung terrorisieren. „Die paracos kontrollieren alles und oft | |
sind Halbwüchsige für sie im Einsatz, kein Tag vergeht, an dem es nicht | |
fünf, sechs Tote gibt“, sagt sie. | |
„Die paracos kontrollieren den Drogenhandel, kassieren Schutzgelder und | |
terrorisieren die Zivilbevölkerung“, weiß José Luis Campo aus eigener | |
Anschauung. Der quirlige Mann mit den graumelierten Haaren und dem | |
spanischen Akzent vertritt die Kinderrepublik Benposta nach außen. Seit 41 | |
Jahren lebt der Theologe aus dem spanischen Galicien in Kolumbien, hat das | |
von Nadel- und Laubbäumen eingefasste Anwesen mit den knapp zwei Dutzend | |
Gebäuden aufgebaut und ist für viele der Bewohner so etwas wie ein | |
Ersatzvater. Vor ein paar Monaten hat der 67-Jährige die Eltern von Ana | |
Milena in Buenaventura besucht. Schnell hat er begriffen, dass es für die | |
18-Jährige keine Chance auf Rückkehr gibt: „Die Familie lebt in einem | |
Armenviertel, in einem Haus aus Holz und Pappe und die Gewalt ist | |
omnipräsent. Da hat Ana Milena keine Chance“, erklärt er mit leiser, | |
knarzender Stimme. | |
## Lernen, schneidern, kochen, studieren gegen die Armut | |
Die Gemeindekirche hatte José Luis Campo vor drei Jahren auf Ana Milena | |
aufmerksam gemacht. Gerade weil sie lernen und nicht zur Liebschaft eines | |
Paramilitärs werden wollten. So kam sie zu der kirchennahen Einrichtung, | |
die auch aus Deutschland mit Spenden unterstützt wird, und die sie nun beim | |
Studium in Bogotá unterstützt. | |
Die Stadt mit neun Millionen Einwohnern ist nur zehn Autominuten entfernt. | |
Die meisten Lehrer von Benposta wohnen unten, rund 100 Kinder und | |
Jugendliche leben derzeit in Benposta. Am freien Samstag lungern viele von | |
ihnen rund um das Basketball- und das Fußballfeld herum. Zwischen acht und | |
18 Jahre sind die Schüler und dank der guten Kontakte zum staatlichen | |
Ausbildungsträger SENA werden auch Kurse in Gastronomie, Schneiderei oder | |
Auto-Reparatur angeboten. | |
„Wir müssen den älteren Jugendlichen Perspektiven aufzeigen“, sagt Campos. | |
Die sind nicht rosig in Kolumbien, die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch. Das | |
erkläre auch, weshalb die bewaffneten Banden wenig Nachwuchssorgen haben, | |
sagt Campos. Zwischen 1985 und 2015 wurden 7.722 Minderjährige von den | |
illegalen bewaffneten Akteuren rekrutiert. Neben der Guerillaorganisation | |
Farc rekrutieren mehrere paramilitärische Organisationen Kinder für den | |
Krieg. Die Farc hat angekündigt keine Jugendlichen unter 17 Jahren mehr | |
anzuwerben und die Minderjährigen in ihren Reihen an | |
Menschenrechtsorganisationen zu übergeben. Laut dem kolumbianischen | |
Verteidigungsministerium waren rund 71 Prozent aller Kinder, die zwischen | |
2002 und 2015 überliefen, für die Farc aktiv. | |
## Häusliche Gewalt treibt die Kinder zur Guerrilla | |
„Hinzu kommen Streitigkeiten in den Familien, sexueller Missbrauch und | |
bittere Armut“, sagt Campos und davon weiß Yenny Yurany Londoño* zu | |
berichten. Sie flüchtete als Dreizehnjährige zur Farc. „Von meiner Mutter | |
wurde ich so brutal geschlagen, dass ein Farc-Comandante sie verwarnte. Von | |
meinem Stiefvater wurde ich vergewaltigt seit ich acht war. Ich musste | |
weg“, erzählt die mittlerweile 26-Jährige, die hin und wieder ihren Mentor | |
José Luis Campos in der Kinderrepublik besucht. | |
Im vergangenen Jahr hat sie ihre Geschichte auch in Havanna bei den | |
Friedensverhandlungen zwischen kolumbianischer Regierung und der Farc | |
erzählt. Sie klagte die Farc an, dass sie Kinder auf der Suche nach | |
Zuflucht ihren Krieg kämpfen lässt. Bei den Minderjährigen hinterlässt das | |
tiefe, traumatische Spuren. | |
Yenny landete nach der Flucht von der Farc erst in einem Heim. „Da waren | |
die Zustände grausam, dann ging es in eine Umerziehungseinrichtung für | |
Jugendliche, wo Drogen zum Alltag gehörten“, erinnert sie sich. Dann | |
landete sie, knapp 16 Jahre alt, in Benposta. „Das war meine Fahrkarte in | |
eine neue Zukunft. Hier hat man mich gelassen, hier zählte was ich dachte, | |
wurden meine Entscheidungen akzeptiert“, sagt sie. | |
## Prominente Unterstützer für Benposta | |
Zwei Jahre blieb sie in dem Dorf, das in den letzten beiden Jahren viel | |
Besuch bekommen hat. Der deutsche Entwicklungsminister Gerd Müller war da, | |
Daniela Schaft, die Partnerin von Bundespräsident Joachim Gauck, sowie die | |
Frau des kolumbianischen Präsidenten, wie Fotos in Benposta zeigen. Auch | |
Gersón Torres ist darauf, er ist der Bürgermeister der Kinderrepublik, | |
somit Ansprechpartner und Mittler. Für ihn haben die Promibesuche einen | |
nicht zu unterschätzenden Effekt: „Viele von uns sind erst erstaunt, | |
weshalb so wichtige Menschen kommen, dann fühlen sie sich aufgewertet und | |
schließlich ernst genommen. Sie werden selbstbewusster“, erklärt der | |
21-Jährige. | |
Er stammt aus der umkämpften Region von Catatumbo im Norden Kolumbiens, | |
nahe der Grenze zu Venezuela. Er hat die Region verlassen, weil es keine | |
staatliche Infrastruktur gibt. Keine weiterführende Schule, keine Angebote | |
für die nachwachsende Generation. Das sei typisch in vielen Regionen | |
Kolumbiens, sagt Yenny Yurany: „Mehr Präsenz in den abgelegenen Dörfern, | |
mehr Ausgaben für Erziehung, Bildung und Gesundheit habe ich daher von der | |
Regierung gefordert. Nur so kommen wir aus dem Kreislauf der Gewalt“, sagt | |
sie und hat das auch in den 15 Minuten Redezeit in Havanna gefordert. | |
Ob die Regierenden Ernst machen und in den Nachwuchs investieren, wird sich | |
zeigen. In Benposta lässt sich studieren, wie es funktionieren kann. | |
Ana Milena, die Psychologie studieren will, um in Buenaventura denen zu | |
helfen, bei denen meist keine Hilfe ankommt. Yenny Yurany hat die erste | |
Hälfte ihre Jurastudiums hinter sich und will sich auf Kinderrecht | |
spezialisieren. Bürgermeister Gersón will Erzieher im Kindergarten werden. | |
Für die drei ist der Kreislauf der Gewalt Vergangenheit. | |
* Der Name ist geändert | |
26 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Knut Henkel | |
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