# taz.de -- Antipersonenminen in Kolumbien: Libios großer Tag | |
> Das Ende des Guerillakrieges rückt näher, doch das Land ist voller Minen. | |
> Viele Opfer sind Zivilisten, die um ihre Rente kämpfen müssen. | |
Bild: Es ist ein guter Tag für sie: Libio Manuel Batancourth und seine Anwält… | |
PASTO taz | „Colpensiones“ – Kolumbianische Rentenanstalt – steht weiß… | |
blau auf dem Schild neben dem Eingang des unscheinbaren Bürogebäudes. | |
„Acá“, weist Janneth Jaramillo Muñoz den Taxifahrer an. Das Taxi hält an, | |
Libio Manuel Betancourth steigt aus. Er hinkt zum Eingang des Hauses und | |
wartet dort auf seine Anwältin, bis diese bezahlt hat. Betancourth nestelt | |
nervös an dem schwarzen Handschuh über seiner linken Hand. Für den | |
25-Jährigen in Jeans und rotem Poloshirt ist heute ein besonderer Tag. Der | |
staatliche Pensionsfonds hat ihn gebeten, seine Unterlagen abzuholen. Vier | |
Jahre hat er darum gekämpft, eine Invalidenrente vom Staat zu bekommen. | |
„Es sieht gut aus“, sagt er hoffnungsfroh. „Wir sind hier, um den Bescheid | |
zu lesen und zu unterzeichnen.“ Mit der rechten, von Narben gezeichneten | |
Hand fährt er sich über die Stirn. Aufmunternd drückt ihm seine Anwältin | |
die gesunde Hand und dirigiert ihn zu dem Wartebereich, wo bereits mehrere | |
Frauen und Männer sitzen und warten. | |
Auch Janneth Jaramillo Muñoz ist zuversichtlich. Eine staatliche Kommission | |
habe festgestellt, dass ihr Mandant „zu 62,8 Prozent versehrt“ sei. „Ab 50 | |
Prozent besteht formal ein Rechtsanspruch“, erklärt die kleingewachsene | |
angehende Juristin. Es ist ihr erster regulärer Fall. Deswegen hat sie sich | |
immer wieder Rat von ihrer Professorin geholt, die mit zwei vergleichbaren | |
Fällen gescheitert war. Für die zivilen Opfer von Antipersonenminen, die | |
oft in der Provinz fernab von institutioneller Hilfe leben, ist es ein | |
langwieriger Weg, ihre Ansprüche gegen den Staat durchzufechten. Erst zwei | |
Präzedenzfälle gibt es, bei denen Opfern eine lebenslange Rente zugebilligt | |
wurde – Libio könnte der dritte sein. | |
## Der 17. März 2011 | |
Geboren und aufgewachsen ist er in Altaquer, einem kleinen Dorf zwischen | |
Pasto und der Hafenstadt Tumaco, ganz im Süden Kolumbiens. Pasto ist die | |
Hauptstadt des von Landwirtschaft und etwas Bergbau geprägten | |
Verwaltungsbezirks Nariño an der Grenze zu Ecuador. Vier Stunden Fahrt über | |
holprige Wege sind es von Pasto nach Ataquer, wo rund 600 Menschen unter | |
dem Kommando der Farc leben. Kolumbiens größte Guerillaorganisation, die | |
„Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia“, kontrolliert nach wie vor | |
große Teile der Grenzregion. | |
An jenem Tag, dem 17. März 2011, hatten wieder Gefechte stattgefunden, die | |
Stromleitung war gekappt – und das Dorf saß im Dunkeln. Zwei Tage später | |
kamen die Techniker vom regionalen Energieversorger, um die Leitungen zu | |
flicken. Da die Schäden größer waren als erwartet, baten sie eine Gruppe | |
von Jugendlichen, ihnen zu helfen. | |
Unter ihnen Libio Manuel Betancourth. Zunächst weigerte er sich, auf die | |
Anhöhe oberhalb des Dorfs, wo der Strommast steht, zu gehen. Dann gab er | |
dem Drängen der Techniker nach. „Auf dem Weg löste sich ein Stein, ich kam | |
ins Rutschen und auf einmal – wumm! – explodierte die Mine“, erinnert er | |
sich. Der Druck der Explosion warf ihn um. Als er, noch benommen, seine | |
linke Hand betrachtete, sah er nur noch den Daumen – die restlichen Finger | |
und Teile des Handrückens waren weggerissen. Noch schlimmer hatte die Mine | |
seine Beine getroffen: Während das rechte Bein später oberhalb des Knies | |
amputiert wurde, haben die Splitter der Mine aus dem linken große Teile der | |
Oberschenkelmuskulatur gerissen. Mehrere Monate und zwanzig Operationen hat | |
es gedauert, bis es wieder belastbar war. | |
## 644.350 Peso auf Lebenszeit | |
„Erst wollte mir niemand helfen“, erinnert sich Libio. „Sie hatten Angst, | |
auf weitere Minen zu treten. Eine Nachbarin zog mich dann auf den Weg. Von | |
dort ging es ins Krankenhaus.“ Libio spricht mit gedämpfter Stimme. Stören | |
will er niemanden hier im Warteraum des staatlichen Pensionsfonds in Pasto, | |
und obendrein erzählt er die Geschichte seiner Verstümmelung ohnehin nicht | |
gern. Dann blinkt Libios Nummer auf der Anzeigetafel auf. Ein Mitarbeiter | |
bittet ihn und seine Anwältin zum Schalter. Die Bürokratie ist | |
unverzichtbar: Ausweise vorlegen, dann schiebt der junge Sachbearbeiter mit | |
dem dünnen Kinnbart vier eng bedruckte Seiten über den Schreibtisch. | |
Aufmerksam beginnt die Anwältin zu lesen, nickt hier und da, schiebt dann | |
die erste Seite ihrem Mandanten zu. So geht es Seite um Seite. | |
„Sie haben dir den Mindestlohn von 644.350 Peso auf Lebenszeit | |
zugestanden“, sagt Janneth Jaramillo Muñoz und lächelt zufrieden. Libio | |
Manuel Betancourth setzt mit zittriger Hand seine Unterschrift unter den | |
Bescheid, reicht dem Sachbearbeiter einen Satz der Unterlagen zurück und | |
erhält den anderen unterschrieben zurück. Ein erleichtertes Grinsen huscht | |
über sein Gesicht. „Die Rente ist enorm wichtig für mich. Sie sichert mir | |
eine gewisse Unabhängigkeit von meiner Familie und könnte mir den Weg zur | |
Universität ebnen“, sagt er und geht langsam zum Ausgang. Mit umgerechnet | |
234 Euro bekommt sein Leben zumindest eine neue finanzielle Basis. | |
Psychologie würde der Sohn eines Grundschullehrers gern studieren. Er hat | |
es am eigenen Leib erfahren, wie wichtig die therapeutische Arbeit für die | |
Opfer ist. Mehrfach wollte er sich das Leben nehmen, und wäre da nicht die | |
permanente Hilfe der „Pastoral Social“ der Diözese von Pasto gewesen, hät… | |
er vielleicht die Kurve nicht gekriegt. Libio hat seinen Frieden gemacht: | |
Die Streitigkeiten mit der Familie, seinen vier Brüdern und dem Vater, sind | |
Geschichte – und er hat eine Freundin gefunden und ist inzwischen Vater | |
eines einjährigen Kindes. | |
## Psychologische Unterstützung | |
Wichtig für Libios Rückkehr in die Normalität war John, der Psychologe der | |
Pastoral Social. Das insgesamt fünfköpfige Team der kirchlichen | |
Sozialeinrichtung in Pasto, das von Handicap International und der | |
deutschen Caritas finanziert wird, hat ihn von der ersten Wundversorgung im | |
Krankenhaus bis heute beraten, ihm auch Janneth Jaramillo Muñoz zur Seite | |
gestellt. Seit 2007 hat der Pastoral Social allein im Verwaltungsdistrikt | |
Nariño mehr als 250 Minenopfer betreut. | |
Libio Manuel Betancourth freut sich über seinen juristischen Sieg, der ihn | |
von so vielen Minenopfern unterscheidet. Die meisten zivilen Opfer der | |
explosiven Artefakte, die unter Grasnarben, am Rande von Trampelpfaden und | |
oft auf Feldern versteckt liegen, haben eine schlechte gesundheitliche | |
Versorgung, kaum psychologische Betreuung und sind auf ihre Familien | |
angewiesen. Angehörige der Polizei oder des Militärs hingegen werden von | |
spezialisierten Sanitätsbataillonen und den Fachabteilungen im | |
Militärkrankenhäuser von Bogotá oder Cartagena versorgt. | |
Seit der Verabschiedung des Gesetzes Nummer 1448 im Jahr 2011 genießen | |
zivile Opfer immerhin einen staatlichen Versorgungsanspruch. „In der Praxis | |
müssen die Opfer trotzdem für ihre Rechte kämpfen“, weiß Rosa Palacios, d… | |
Leiterin des Teams vom Pastoral Social in Pasto, aus Erfahrung. Das liege | |
nicht etwa an fehlenden Ressourcen sondern an der Verteilung der Mittel, | |
meint Álvaro Jiménez Millán, Leiter der Kolumbianischen Kampagne gegen | |
Minen. „Zivile Opfer haben in unserem Land keine Priorität“, kritisiert er | |
die staatlichen Institutionen, trotz der jüngsten Fortschritte. | |
Mehr Rückenwind für die Belange der Opfer erhofft sich Libio Manuel | |
Betancourt von den Friedensverhandlungen zwischen Farc-Guerilla und | |
Regierung. Im März haben beide Seiten ein Abkommen unterzeichnet, in dem | |
ein erstes Pilotprojekt zur gemeinsamen Minenräumung durch die Farc und | |
Armeespezialisten angestoßen wurde. | |
Es läuft seit dem 28. Mai und bedeutet für Libio einen echten | |
Hoffnungsschimmer: „Die gemeinsame Räumung der Minen könnte an unserer | |
bitteren Realität in Kolumbien vieles ändern“, sagt der 25-Jährige, der | |
sich nichts sehnlicher wünscht als Frieden für sein Land. Dann | |
verabschiedet er sich, den Vertrag mit dem Stempel von Colpensiones in der | |
rechten Hand, geht etwas stockend die Treppe herunter und macht sich auf | |
den Heimweg. Heute gibt es schließlich noch etwas zu feiern. | |
14 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Knut Henkel | |
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