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# taz.de -- Terrormiliz Boko Haram in Nigeria: Die Angst vorm eigenen Dorf
> Die 20-jährige Dorcas Aiden hat ihre Gefangenschaft bei Boko Haram
> überlebt. Ob sie jemals in ihr Heimatdorf zurückkehren kann, ist
> ungewiss.
Bild: Die 20-jährige Dorcas Aiden ist der Terrormiliz entkommen.
Yola/Michika taz | Yola macht dem Namen Provinzhauptstadt alle Ehre. In der
Hauptstadt des nigerianischen Bundesstaates Adamawa passiert wenig. Gerade
bekommt Yola, gelegen an der Grenze zu Kamerun und südlich von der vom
Terror gebeutelten Provinz Borno, zwar eine neue Empfangshalle auf dem
Flughafengelände. Aber diese wird klein. Mehr als drei kommerzielle Flüge
landen nie pro Tag. Sogar im Zentrum der Stadt sind die Straßen angenehm
leer. Es gibt weder riesige Einkaufszentren noch Supermärkte, nur den neuen
Jimeta Market, auf dem sich ein Verkaufsstand an den nächsten reiht.
Hier hat die Terrorgruppe Boko Haram Anfang Juni zugeschlagen. Es war der
erste Anschlag im Herzen von Adamawa, das bisher verschont worden war.
Trotzdem sind Terror und Gewalt überall spürbar. Nach Yola haben sich seit
September 2014 viele tausend Binnenflüchtlinge gerettet.
Die 20-jährige Dorcas Aiden zieht häufig durch die Straßen der Stadt, wenn
sie sich fit genug fühlt. Es gibt Tage, an denen sie sich zu nichts
aufraffen kann. Auch jetzt schimmert das Weiß in ihren müden Augen rötlich.
Dorcas Aiden spricht langsam, manchmal gequält. Oft fallen ihr die
englischen Begriffe nicht ein. Wenn sie Haussa, die größte Verkehrssprache
des Nordens spricht, fühlt sie sich ein wenig wohler.
Die junge Frau rutscht auf dem schlichten Holzstuhl hin und her. Sie ist zu
Besuch in den Räumen des Komitees für Gerechtigkeit, Entwicklung und
Frieden, das zur katholischen Kirche gehört. Seit Monaten kümmern sich die
Mitarbeiter fast ausschließlich um die Flüchtlinge.
Es gab Wochen, in denen sie für mehrere tausend Menschen Essen, Kleidung
und Schlafplätze bereit gestellt haben – ohne staatliche Hilfe. Ab und zu
kommt die nigerianische Nothilfeagentur Nema vorbei und schaut sich das
Camp an. Doch für die meisten Menschen ist der Staat nicht vorhanden. Auch
für Dorcas Aiden nicht.
## Kein Geld für Behandlung
Was sie quält, sieht aus wie ein großer, hart gewordener Abszess am
Oberschenkel. Doch die Ärzte sind sich nicht sicher, worum genau es sich
handelt. „Schau mal. Diese Tabletten habe ich bekommen“, sagt sie und kramt
ein durchsichtiges Tütchen mit weißen Pillen hervor. „Wenn es nicht besser
wird, will die Ärztin operieren.“ Eigentlich müsste die junge Frau ins
Krankenhaus. Doch einen Spezialisten gibt es in Yola nicht. Und wenn es ihn
gäbe, hätte sie kein Geld für eine Behandlung. Seit Oktober ist sie
Flüchtling und lebt von Spenden.
Dabei hat die Regenzeit begonnen, und es wäre Zeit, die Felder in Madagali,
dem Heimatort der Familie, zu bestellen. Sie baut Bohnen, Mais, Erdnüsse
und Sorghum an und würde lieber heute als morgen zurück kehren. Doch Dorcas
Aiden, die sich mit ihren Eltern und einer Schwester eine winzige Wohnung
teilt, fürchtet sich davor. „Bevor ich zurück gehe, muss es mindestens ein
Jahr her sein.“
Im Büro summt der Ventilator, die Abendsonne scheint durchs Fenster. Die
junge Frau legt den Kopf auf den Tisch und denkt an das, was ihr in ihrem
Heimatort am meisten Angst macht: die Erinnerungen an Boko Haram. Im
September 2014 marschierten deren Kämpfer ohne Widerstand in Richtung
Süden.
Irgendwann hieß es, dass sie in Madagali angekommen sind. Dorcas Aiden
versuchte zu fliehen. „Doch eine Frau aus dem Ort hat ihnen gesagt, in
welche Richtung wir gerannt sind“, erzählt sie. Zehn Männer liefen ihr, den
anderen Mädchen und Frauen nach, holten sie ein, packten sie und sperrten
die Opfer in ein großes Haus am Rande des Ortes ein.
Dass die Mitglieder der Terrorgruppe durchaus Unterstützung in der
Bevölkerung hatten und haben, bestätigen viele Flüchtlinge. Einige Anwohner
dürften den Kämpfern aus Angst geholfen haben, andere in der Hoffnung,
während der Besatzung zu profitieren. Boko Haram hatte im August 2014 ein
Kalifat nach Vorbild des Islamischen Staates (IS) ausgerufen und begann
zielstrebig, Gebiete in Borno und später auch Adamawa zu besetzen. Es sah
so aus, als ob sich die Terroristen auf Dauer einrichten würden.
## Erschossen vor ihren Augen
Zur Strategie gehörte auch, Frauen gefangen zu nehmen und die Männer vor
ihren Augen zu erschießen oder ihnen die Kehlen durchzuschneiden. Dorcas
Aiden musste eine dieser Hinrichtungen mitansehen. Sie spricht immer leiser
über das Erlebte, fast flüstert sie. „Die Männer haben gedroht, uns in den
Sambisa-Wald zu bringen und uns zu heiraten.“
Sie spielt mit den Fransen an ihrem grauen Tuch und starrt auf den Tisch.
Das war fünf Monate nach Chibok. Im April 2014 hatte Boko Haram in der
Stadt nachts 276 Mädchen aus den Schlafsälen entführt. Chibok, bis dahin
ein bedeutungsloser Ort, ist längst zum Synonym für die Gräueltaten der
Terrormiliz geworden.
Bis in den Sambisa-Wald schafften es die Peiniger von Madagali allerdings
nicht. Nach zwei Wochen wurden sie nachlässig und vergaßen irgendwann, das
Zimmer der Gefangenen abzuschließen. Die Frauen und Mädchen öffneten leise
die Tür, schlichen vom Grundstück und flüchteten in die Wälder. Tagelang
hatten sie nicht einmal Trinkwasser. Dorcas Aiden schlug sich erst nach
Mubi, dann nach Yola durch. Sie fand Bekannte ihrer Eltern und bettelte in
Kirchen.
## Krank und abhängig
Jetzt rutscht sie wieder auf dem Holzstuhl hin und her und versucht so zu
sitzen, dass die Schmerzen nicht allzu groß sind. Als sie schließlich in
der Provinzhauptstadt angekommen war, fing auch das mit der Beule am
Oberschenkel an. Dorcas Aiden schaut nach draußen. Ihre Krankheit quält
sie, aber auch die Tatenlosigkeit. „Hier in Yola kann ich nichts machen.
Ich bin so abhängig.“
Trotzdem bleibt die Angst vor der Rückkehr an den Ort des Grauens. Viele
tausend Nigerianer haben dieses Erlebnis schon hinter sich. Noch vor gut
einem Monat waren viele optimistisch, denn das Terrorproblem schien bald
gelöst zu sein. Höchste Zeit, um wieder nach Hause zu gehen und auf den
Feldern zu arbeiten. Gerade hat der Direktor der Hilfsorganisation Nema,
Mohammad Sani-Sidi, verkündet, dass die Zahl der staatlichen
Flüchtlingscamps alleine in Adamawa von elf auf sechs verringert werden
konnte.
Wer die 230 Kilometer lange Strecke von Yola nach Michika fährt, spürt vom
Optimismus nicht mehr viel. Sieben Großgemeinden, die im Norden des
Bundesstaates liegen, konnte Boko Haram von September bis Dezember 2014
besetzen.
Heute stehen an den Straßen ausgebrannte Häuser. Die meisten Geschäfte sind
noch mit Brettern verrammelt. Nur ab und zu sind ein paar der Rückkehrer
dabei, die Fassaden ihrer Läden wieder zu streichen, um sie irgendwann
wieder zu öffnen. Doch niemand kümmert sich um die Panzer, die Boko Haram
benutzte, oder die Sprengsätze, die noch in den Dörfern und auf den Feldern
liegen und vor allem für spielende Kinder zur tödlichen Gefahr werden
können.
Auf dem Weg in Richtung Norden hat die Miliz auch mehrere strategisch
wichtige Brücken zerstört. Noch können Autos durch das trockene Flussbett
auf die andere Seite kommen. Doch wenn es richtig anfängt zu regnen, wird
auch das unmöglich.
## Rückkehrer ohne Geld
Zu den besetzten Gebieten gehörte auch die Stadt Michika. Im Zentrum stehen
die meisten Gebäude noch, und die Terroristen haben weniger Spuren als in
anderen Orten hinterlassen. Doch die Ruhe täuscht. Wochentags warten
Hunderte Frauen auf dem Gelände der katholischen Kirche, da hier
Lebensmittel und Medikamente verteilt werden sollen. Viele der Wartenden
sind erst vor wenigen Wochen aus Yola zurückgekehrt.
Joel Billi hat sich dafür extra heraus geputzt. Er trägt ein gestreiftes
Hemd und eine Anzugjacke und ist einer der wenigen Männer, die an diesem
Morgen gekommen sind. Auch hier hat Boko Haram gemordet. Wie viele Opfer es
genau in Michika gegeben hat, kann er noch nicht sagen.
Während sich die Frauen in eine lange Schlange einreihen, steht er am Rand
und beobachtet die Verteilung der Waren. Lebensmittel gibt es zwar auch auf
den Märkten, doch nach fast einem Jahr ohne Arbeit haben die meisten
Rückkehrer kein Geld. „Der Staat gibt keine Unterstützung. Wir fühlen kein
bisschen, dass es ihn überhaupt gibt“, klagt Billi.
## Leben ohne Perspektive
Wie viele andere war auch er hin- und hergerissen. Das Leben als
Binnenflüchtling in Yola hatte keine Perspektive. Sie wollten und sollten
zurück. Doch niemand hat sich ausgemalt, wie das Leben nach der Besatzung
sein würde. Billi muss ein wenig gegen den Lärm anschreien, denn vor ihm
stehen die Frauen dicht gedrängt nebeneinander. Die Angst, keinen der
Getreidesäcke mehr abzubekommen, ist groß.
„Gestern habe ich gehört, dass das größte Krankenhaus zwar wieder geöffnet
hat“, sagt Billi. „Aber es gibt viel zu wenig Krankenschwestern. Schon
einfache Krankheiten wie Diabetes und Bluthochdruck können nicht mehr
behandelt werden.“
Immerhin vermitteln viele Soldaten vor Ort das Gefühl von Sicherheit. Nie
verhaftet wurden jedoch viele Boko-Haram-Mitläufer. „Sie bewegen sich
freier als alle anderen“, sagt Joel Billi verächtlich. Sollten sie sich
doch noch einmal zusammenschließen, bliebe vielen Menschen nicht einmal die
Flucht nach Yola, glaubt er: „Die Brücken sind ja zerstört.“
5 Jul 2015
## AUTOREN
Katrin Gänsler
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