| # taz.de -- Matthew Herbert über politische Musik: „Zittern macht das Leben … | |
| > Der britische Elektronikproduzent Matthew Herbert über die | |
| > Klangeigenschaften von Schokoriegeln und Tanzen als politische Bewegung. | |
| Bild: Matthew Herbert. | |
| taz: Herr Herbert, was man zuerst wahrnimmt auf Ihrem neuen Album „The | |
| Shakes“ ist eine Art Rattern, es könnte das Betriebsgeräusch eines riesigen | |
| Druckers sein. Ich nehme an, das ist nicht die Quelle dieses Geräuschs? | |
| Matthew Herbert: Es ist ein Schokoladenriegel der Marke „Dairy Milk“. Ich | |
| habe einen Beat aus dem Schokoladenriegel gemacht und später vergessen, die | |
| Geschwindigkeit anzupassen, so dass der Beat doppelt so schnell läuft. | |
| So hört es sich also an, wenn Sie einen Schokoriegel zerknurpsen? | |
| Lacht. Nein. Ich habe ihn zerbrochen, nicht gegessen. | |
| Sie haben nicht nur einen Track aus einem Schokoriegel gebastelt, sondern | |
| ganze Alben über die Produktion von Schweinefleisch oder über die | |
| industrielle Herstellung von Supermarktprodukten gemacht. Was fasziniert | |
| Sie so an Ernährung? | |
| Entscheidungen, die wir beim Essen treffen, haben großen Einfluss. Wir | |
| können teilweise nicht herausfinden, wo unsere Nahrungsmittel herkommen | |
| oder unter welchen Umständen sie hergestellt wurden. Gleichzeitig wird von | |
| uns erwartet, dass wir unserem Körper dieses Zeug mit allen in ihnen | |
| enthaltenen Chemikalien und all den Körperteilen von Tieren, die wir | |
| normalerweise niemals essen würden, zuführen. Ein Sandwich wird zum | |
| Schlachtfeld zwischen uns und dem System, das es hervorgebracht hat. | |
| Mit Ihrer Musik verhält es sich wie mit dem Essen: Man weiß nicht, welchen | |
| Ursprung die Sounds haben, die man hört. | |
| Das stimmt. | |
| Welche Eigenschaften müssen Sounds für Sie haben, um interessant zu sein? | |
| Sie müssen aufrichtig sein. Das ist am wichtigsten. Auf „The Shakes“ sind | |
| die Sounds weniger aufrichtig als auf meinen früheren Alben, das war eine | |
| bewusste Entscheidung. Eigentlich verbiete ich es mir, Sounds zu benützen, | |
| die ich bereits verwendet habe, und nehme keine Maschinen her. Auf „The | |
| Shakes“ sind aber viele drum machines, Synthesizer und so weiter. | |
| Ausgangspunkt für Ihr neues Album war die Spannung zwischen Ihrem | |
| glücklichen Familienleben und dem Wissen, dass in jeder Minute auf der Welt | |
| Kinder ermordet werden. | |
| Eines meiner letzten Alben basierte auf dem Geräusch einer explodierenden | |
| Bombe. Das ist eine sehr direkte und explizite Art, über Krieg, Angst und | |
| Tod nachzudenken. Auf „The Shakes“ erzähle ich diese Geschichte noch mal | |
| anders. Wir leben in einem absolut kranken System. Ich selbst befinde mich | |
| dabei in einer ziemlich absurden Position: Ich kann mich glücklich | |
| schätzen, bewohne ein schönes Haus, verdiene Geld mit meiner Kunst, indem | |
| ich die Welt bereise und öffentlich Musik spiele. Mein Leben ist | |
| gegenläufig zu dem, was die meisten Menschen führen. Ich werde immer | |
| privilegierter und die Welt wird immer beschissener. | |
| Was tun Sie dagegen? | |
| Wenn man in einer privilegierten Position ist, dann ist es wichtig, diese | |
| Position zu hinterfragen. Ich bin weiß, männlich und Teil der Mittelklasse | |
| – ich habe die Verantwortung, nicht so zu tun, als wäre alles okay. Schauen | |
| Sie sich an, was in meiner Heimat Großbritannien passiert: Die Zeitungen | |
| werden immer rechter, das kapitalistische System beginnt an den Enden | |
| brüchig zu werden. Das Establishment hat Angst vor Veränderungen. Sie | |
| fangen an, mit dem Finger auf Einwanderer, Flüchtlinge und Arbeitslose zu | |
| zeigen. Das Wertesystem verschiebt sich. | |
| Wie hilft da „The Shakes“? | |
| Mit „The Shakes“ feiere ich, dass es okay ist, anders zu sein. Ich richte | |
| den Fokus auf Liebe, Wärme, finde Gemeinsamkeiten statt Unterschiede. Im | |
| Leben geht es um beide Bedeutungen von to shake: Du kannst Zittern, weil du | |
| aufgeregt bist, du kannst zittern, weil du Angst hast. Das macht das Leben | |
| aus. | |
| Das lässt mich an eine Zeile auf „The Shakes“ denken: „There’s no safe… | |
| a beat“. Man kann noch so ausgelassen zu einem Beat tanzen, das schützt | |
| einen vor überhaupt nichts. | |
| Sicherheit ist eine Illusion. Aber es gibt im Tanzen ein politisches | |
| Moment: Indem man einen gemeinsamen Raum mit anderen teilt, die vielleicht | |
| ganz anders sind als man selbst: Schwule, Heteros, Schwarze, Weiße. Es ist | |
| ein Klischee: Aber beim Tanzen zählt nicht, wo du herkommst und welche | |
| Sprache du sprichst. Allerdings hat sich dieses politische Moment nie | |
| wirklich zu einer politischen Bewegung kristallisiert. Das ist eigentlich | |
| seltsam, wenn man die Ursprünge elektronischer Tanzmusik in Chicago | |
| bedenkt, die schwarz und schwul sind. | |
| „There’s no safety in a beat“ gilt aber umso mehr für Ihre Musik: Hörer | |
| erfahren nicht, wo die Sounds herkommen. Man könnte gerade auch zum | |
| Geräusch einer einschlagenden Granate tanzen. Warum lassen Sie dies im | |
| Unklaren? | |
| Es ist ein Täuschungsmanöver. In gewisser Weise fast ein mieser Trick, weil | |
| ich die Leute ein bisschen verarsche. Andererseits ist es eine aufrichtige | |
| Täuschung: Die Technologie, die wir zum Musikmachen verwenden, wurde vom | |
| Militär entwickelt. Das Öl, aus dem das Vinyl ist, auf dem die Platte | |
| gepresst ist, kommt mit großer Wahrscheinlichkeit aus Ländern wie Nigeria, | |
| Irak oder Saudi-Arabien. Allem, was wir tun, wohnt auf diese Weise eine | |
| gewisse Gewalttätigkeit inne. Das stelle ich mit meinen Tracks aus. | |
| Politisch motivierte Musik ist nicht ohne die Reflexion dieses Moments der | |
| Gewalttätigkeit möglich? | |
| Ja. Es geht darum, etwas zu durchschauen. Das ist für mich der wichtigste | |
| Moment des Politischen: Wenn man etwas versteht. Diesen Moment will ich mit | |
| meiner Musik erzeugen. Man kann Jahre lang ein Lied anhören und plötzlich | |
| denken: Was sind das eigentlich für Sounds? Und dann merkt man: Man tanzt | |
| zum Geräusch von Gewehrsalven. Diesen Moment der Erkenntnis finde ich sehr | |
| wichtig. | |
| Die kleinen Risse in der Wahrnehmung der Welt. | |
| Ja. Wie ein kleines Fenster, durch das plötzlich ein Gedanken in dein Leben | |
| tritt, der vorher nicht da war. | |
| Gehört dazu auch, dass Sie tatsächlich für jeden einzelnen Track auf „The | |
| Shakes“ jeweils ein Stillleben-Video gedreht haben? | |
| Nein, das hat einen anderen Grund: Ich hasse die Tatsache, dass wir Musik | |
| heutzutage ansehen. Immer gibt es Bilder zur Musik. Am meisten hasse ich | |
| Leute, die meine Songs mit irgendeinem Bild versehen, das nichts mit der | |
| Musik zu tun hat, und auf YouTube hochladen. Das kann alles, was ich mit | |
| einem Song intendiert habe, ruinieren. Deswegen dachte ich mir: Statt ein | |
| oder zwei aufwendige Videos mache ich einfach ein weniger aufwendiges Video | |
| zu jedem Track. Außerdem ist das ein Gegenprogramm zu den Videos von | |
| Rihanna oder Beyoncé, in denen so wahnsinnig viel passiert. Bei mir fragt | |
| man sich: Wird überhaupt irgendetwas passieren? | |
| Letzte Frage: Lässt sich eigentlich definitiv sagen, was der entscheidende | |
| Moment einer Aufnahme ist? | |
| Picasso sagte: Die Wahrheit steckt nicht im Pinsel, die Wahrheit meiner | |
| Bilder entsteht aus den Entscheidungen, die ich getroffen habe. Mit einem | |
| Mikrofon hat man eine unglaubliche Macht. Man kann es einem Flüchtling oder | |
| einem Minister unter die Nase halten oder einfach nach Hause gehen und sich | |
| selbst beim Gitarrespielen aufnehmen. Es sind diese kleinen Entscheidungen, | |
| die den Moment der Wahrheit ausmachen. Soll heißen: Die Frage ist nicht, | |
| wie ich aufnehme, sondern was ich aufnehme. | |
| 5 Jun 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Elias Kreuzmair | |
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