# taz.de -- Komponistin Holly Herndon: Aus Liebe zum Laptop | |
> Sie will Rechner als Konzertinstrumente rehabilitieren. Die Songs, die | |
> Herndon für ihr neues Album „Platform“ erzeugt hat, sind fremdartig | |
> schön. | |
Bild: Mag auch Blümchen: Holly Herndon. | |
Wie körperlich kann Laptop-Musik sein? Kann digitale Musik überhaupt | |
körperlich sein? Für Holly Herndon ist das gar keine Frage. Die junge | |
Komponistin, die am CCRMA, dem Center for Computer Research in Music and | |
Acoustics, an der kalifornischen Elite-Universität Stanford promoviert, hat | |
sich in ihrem Studium ausgiebig mit dieser Frage beschäftigt. | |
Einfach weil es sie störte, die immer gleichen Vorurteile zu hören. Dass | |
Musik aus dem Laptop körperlos sei. Und nichts so langweilig wie ein | |
Konzert mit Menschen am Klapprechner auf der Bühne. Bis heute ist die | |
Rehabilitierung des Laptops als Konzertinstrument eines ihrer großen | |
Anliegen. | |
In ihrer Musik arbeitet sie gern mit natürlichen Klängen, „von etwas, das | |
hinfällt“ zum Beispiel, wie sie beim Gespräch in Berlin erzählt. Auf diesem | |
Wege könne man die „physikalischen Eigenschaften der Welt“ hörbar machen. | |
Das kann auf realistische oder unrealistische Weise geschehen. Entscheidend | |
ist für Herndon, dass ihre Musik „erdig, fleischlich und menschlich“ | |
klingt. | |
## Hauptzutat ist die menschliche Stimme | |
Als Hauptzutat dient ihr die menschliche Stimme. Die wird dann gründlich | |
digital bearbeitet und um ungewohnte Facetten bereichert. Was im Ergebnis | |
keinesfalls spröde klingt. So ist Herndons zweites Album, „Platform“, in | |
Europa beim Londoner Label 4AD gelandet, einer bewährten Adresse für | |
alternative Pop-Bands wie die Cocteau Twins. | |
Auf ihrem Debütalbum „Movement“ von 2012 herrschte eine Spannung zwischen | |
avancierter Clubmusik und freieren Klangetüden. Diesmal hat sie ihre Kräfte | |
zu Songs mit leichter Tendenz zur Abstraktion gebündelt. „Ich denke, meine | |
Musik ist zugleich fremder und zugänglicher geworden“, so Herndon. „Und ich | |
mag diese Kombination.“ | |
Ganz bewusst vermeidet es Hernon dabei, Genrekonventionen zu bedienen. | |
Dinge zu reproduzieren, die es schon gab und die immer gern genommen | |
werden, ist ihre Sache nicht. Lieber verwendet sie neue Klangfarben, die | |
fremd erscheinen können – oder unheimlich: „Etwa wenn du eine Stimme hörs… | |
die aber digital so manipuliert wurde, dass man sie nicht mehr richtig | |
erkennen kann.“ | |
## Affekte via Skype | |
Für Herndon sind diese Klangbearbeitungen keine Spielereien, sondern Teil | |
ihrer Suche nach einer Ästhetik für die Gegenwart. Einer Ästhetik, die sie | |
selbst und ihre Kultur im Allgemeinen repräsentiert. Und mit der sich | |
Emotionen noch einmal ganz anders artikulieren lassen. „Unsere Gefühle | |
ändern sich, unsere Beziehungen ändern sich, die Technik hat einen immensen | |
Einfluss darauf, wie wir miteinander kommunizieren. | |
Und die Gefühle, die man etwa bei einem Trennungsgespräch über Skype hat, | |
sollten meiner Meinung nach in der Musik nicht mit denselben Affekten | |
transportiert werden, wie sie vielleicht zu einer Milchshake-Bar in den | |
fünfziger Jahren passen würden.“ | |
Eine Art Trennungssong hat Herndon für „Platform“ beigesteuert: „Home“ | |
handelt allerdings streng genommen nicht vom Ende einer Beziehung, sondern | |
davon, wie eine Beziehung komplizierter wird. Nicht von Mensch zu Mensch, | |
sondern von Mensch zu Laptop. Vor dem NSA-Skandal schwärmte Herndon noch | |
vom intimen Verhältnis zu ihrem Rechner. | |
## Verschlüsselter E-Mail-Verkehr | |
Daran hat sich grundsätzlich nichts geändert, sie geht inzwischen nur | |
weniger naiv mit dem um, was sie dem Rechner anvertraut. Benutzt für ihren | |
E-Mail-Verkehr manchmal Verschlüsselung, auch wenn sie eingesteht, dass es | |
echt „ermüdend“ sei. Im Übrigen liebe sie ihren Computer nach wie vor, und | |
liebe es, mit ihm Musik zu machen. | |
„Home“ wird von Herndons weitgehend unverfremdeten hellen Gesang beherrscht | |
und hat mit seiner melancholischen Melodie in Moll durchaus ein bisschen | |
von einem Klagelied. Um ihre Stimme, die Herndon wie zu einem | |
Selbstgespräch arrangiert hat, piepst ein verfremdeter Chor. Dazu rumpelt | |
und splittert es kalt und abweisend, mit mal mehr, mal weniger | |
nachvollziehbaren Rhythmen. Tief unten zieht ein Sinuston-Bass seine | |
stoischen Kreise. | |
Die technischen Mittel für ihre musikalischen Ideen findet Herndon am | |
CCRMA, einem äußerst naturwissenschaftlich orientierten Studienprogramm mit | |
lauter „Spinnern“, wie sie sagt – Mathematikern, Informatikern oder | |
Physikern. Musiker sind die Ausnahme. | |
## Das Programmieren aufs Nötigste beschränken | |
Ihre ästhetischen Vorstellungen hatte sie zuvor am hippieesken Mills | |
College in Oakland bei eher „freien“ Kompositionslehrern wie Maggi Payne, | |
Fred Frith und Roscoe Mitchell erproben und entwickeln können. Jetzt ist | |
sie in Stanford umgeben von Kommilitonen, die „völlig besessen davon sind, | |
Tools zu entwickeln, und die nichts anderes tun wollen“. Sie selbst mache | |
lieber Musik und beschränke sich beim Programmieren auf das Nötigste. | |
Eines der Programme, das sie auf „Platform“ verwendet hat, stammt von ihrem | |
Freund Mat Dryhurst. „Net Concrete“ ist eine Software, die beim Surfen im | |
Internet die Browserdaten aufzeichnet und in Audiosignale umwandelt. Aus | |
diesen Klängen kann man dann Collagen erstellen. | |
Das Verfahren ist eine Internetversion der französischen Musique concrète | |
aus den fünfziger Jahren, bei der Umweltgeräusche mit dem Tonband | |
aufgenommen und dann neu zusammengeschnitten wurden. Im Song „Chorus“ hört | |
man einige dieser „Browser-Klänge“, elektronische Melodiefragmente, | |
rhythmisches Stampfen, aus dem sich allmählich die Struktur des Songs | |
herausschält. | |
## Erste Erfahrung mit elektronischer Musik in Berlin | |
Die Vorliebe Herndons für elektronische Songs kann man übrigens in einer | |
musikalischen Erfahrung ihrer Jugend angelegt finden. Mit 16 Jahren kam die | |
in Tennessee geborene US-Amerikanerin für einen Schulaustausch nach Berlin, | |
Anfang der 2000er Jahre. Dort wurde sie zum ersten Mal mit elektronischer | |
Musik konfrontiert. | |
Einen besonders starken Eindruck hinterließ bei ihr der Eurodance-Pop von | |
Blümchen. Auch wenn sie ihren damaligen Favoriten „Heut’ ist mein Tag“ e… | |
Weile nicht mehr gehört hat, kann er sie immer noch in Euphorie versetzen. | |
„Ich habe ganz gewiss eine Schwäche dafür.“ Womöglich steckt im | |
hochgepitchten Gesang von Blümchen sogar der Keim für Herndons | |
Stimm-Manipulationen von heute. | |
17 May 2015 | |
## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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