# taz.de -- Rundfunk ohne Multikulti: Nur die alte Heimat im Wohnzimmer | |
> Per Satellit können arabische Berliner mehr als 60 Fernsehkanäle aus | |
> ihren Herkunftsländern empfangen. Um das Leben in Deutschland geht es in | |
> deren Programmen nicht. Ein Grund, warum der Familienberater Raafat Matar | |
> die Schließung von Radio Multikulti für falsch hält. | |
Bild: Live aus Washington auf Berliner Bildschirme: Der arabische Nachrichtense… | |
Normalerweise sitzt Raafat Matar nicht schon am späten Nachmittag vor der | |
Glotze. Der 49-Jährige arbeitet als interkultureller Familienberater in | |
Kreuzberg, ehrenamtlich betreut er mit seinem Verein Arabischer Bund | |
außerdem Gesprächsgruppen für Väter und Mütter arabischer Herkunft in | |
Neukölln. Die gemütliche Wohnung der Matars in Mitte enthüllt erst auf den | |
zweiten Blick die Herkunft des Familienvaters: Matar stammt aus Ägypten. | |
Arabische Trommeln verschiedener Größe im und neben dem Wohnzimmerschrank | |
verweisen auf sein musikalisches Hobby: Am Wochenende musiziert Matar | |
gemeinsam mit seinen beiden Söhnen gerne. Die große Satellitenschüssel auf | |
dem Balkon verrät, dass der Sozialpädagoge zumindest ab und an auch mal | |
fernsieht. Sein Empfangsgerät ist auf den Satelliten Hotbird gerichtet, mit | |
dem vor allem staatliche Sender arabischer Länder zu empfangen sind. Viele | |
arabischstämmige Berliner bevorzugten jedoch den ägyptischen Satelliten | |
Nilesat, so Matar, über den mehr private Fernsehsender ausgestrahlt werden. | |
Bis zu 65.000 arabischstämmige Menschen aus 22 verschiedenen | |
Herkunftsländern leben in Berlin, schätzt Raafat Matar. Die größte Gruppe | |
unter ihnen bilden die Palästinenser, von denen viele als Flüchtlinge | |
kamen. Erst langsam gewöhnten die sich an den Gedanken, dauerhaft in | |
Deutschland zu leben, meint der Familienberater, der durch seine Arbeit und | |
sein Engagement im Verein viel Einblick in die Lebenssituation der | |
Zuwandererfamilien hat. Das Fernsehen sei für viele eine wichtige Brücke | |
zur alten Heimat - aber, so Matar, auch ein Integrationshandicap. | |
Dienstagnachmittag, kurz nach fünf Uhr, in Berlin: Auf dem im Emirat Katar | |
ansässigen TV-Kanal Al-Jazeera läuft - die Fußball-EM. Keine vollständigen | |
Spiele, aber kurze Zusammenfassungen in den Hauptnachrichten. Es folgt ein | |
Bericht über eine Gesundheitskonferenz in Damaskus. Die Laufschrift mit | |
aktuellsten Nachrichten und Programmhinweisen am unteren Bildschirmrand | |
läuft von links nach rechts. Al-Jazeera gelte zwar als seriöser Sender und | |
berichte auch mal aus dem nichtarabischen Ausland, sagt Matar: "Aber die | |
Nachrichten sind häufig sehr einseitig und manipulativ - wie eigentlich bei | |
allen arabischen Sendern." | |
Das Weiterzappen durch die Satellitenprogramme bestätigt: Neutrale | |
Berichterstattung und Nachrichten aus dem Ausland jenseits der arabischen | |
Staaten haben in den Sendern kaum Platz. Im ägyptischen Sender El-Nil | |
diskutieren Journalisten die westliche Doppelmoral im arabisch-israelischen | |
Konflikt. El-Arabeya aus Saudi-Arabien berichtet über eine Konferenz in | |
Libyen, auf der Staatsoberhaupt Gaddafi gerade feststellt, der Westen nutze | |
die arabischen Länder nur aus. Al-Hiwar-TV, ein in London ansässiger | |
Sender, zeigt die weltbekannten Bilder der Misshandlungen im irakischen | |
Gefängnis von Abu Ghreib. | |
Aus nichtarabischen Ländern kommen Nachrichten über den Kopftuchkonflikt in | |
der Türkei oder über ein gemeinsames Konzert arabischer und westlicher | |
Musiker in Kalifornien. Die Erkenntnis des Moderators: "So kann Musik die | |
Kulturen einander näherbringen." Im irakischen Sender Al-Fayhaa kommen in | |
Europa lebende IrakerInnen zu Wort: Sie wünschen Frieden und sichere | |
Lebensverhältnisse für ihr Herkunftsland. Um ihr Leben als Flüchtlinge geht | |
es nicht. | |
Die Situation im Irak, in den Palästinensergebieten, auch in Afghanistan | |
nehme viel Raum in den Nachrichten der arabischen Sender ein, sagt Matar. | |
Berichtet werde nur aus arabischer Perspektive, oft würde mit Nahaufnahmen | |
von Toten und Verletzten etwa aus dem Irak oder | |
israelisch-palästinensischen Kämpfen antiwestliche Stimmung erzeugt. Für | |
die hier lebenden Araber habe das Konsequenzen, meint er: Sie blieben auf | |
Distanz zur deutschen Gesellschaft. "Wer den ganzen Tag solche Berichte | |
sieht, kann kein Verständnis entwickeln für die Haltungen der Menschen | |
hier." Dieses Unverständnis führe zu Ablehnung: "Viele holen sich die | |
Heimat ins Wohnzimmer und kommen in Deutschland gar nicht richtig an." Die | |
arabischen Unterhaltungsprogramme verstärkten diesen Effekt noch, meint der | |
Sozialpädagoge: Gerade bei Frauen seien die meist in Ägypten und Syrien | |
produzierten TV-Serien beliebt. Die aber gäben ein verzerrtes Bild von den | |
Lebensbedingungen in den Herkunftsländern. | |
Kurz nach achtzehn Uhr in Berlin: Qatar TV zeigt eine Serie, in der | |
Hauptrolle der weißhaarige Omar Sharif. Eine junge Frau in ärmellosem rotem | |
Cocktailkleid, zuvor noch als Kostüm tragende Managerin hinter einem | |
breiten Schreibtisch zu sehen, serviert ihm charmant tänzelnd und plaudernd | |
Platten voller Leckereien. Der alte Herr lobt ihre Kochkünste, später | |
schwärmt sie mit ihrer Freundin in einem gepflegten Park vom Wert | |
romantischer Liebe. Die schelmische Mimik und verspielte Gestik der | |
Schauspielerinnen erinnert an Bollywoodfilme, die Umgebung, in der gefilmt | |
wird, an europäische Luxushotels. | |
## Falsche Bilder | |
Mit der Lebenswirklichkeit in den arabischen Ländern hätten diese Serien | |
wenig zu tun, meint Raafat Matar: "Sie zeichnen ein Bild, das in der | |
Realität nicht existiert." Selbst in Ägypten trügen sogar die Ministerinnen | |
Kopftuch - im Fernsehen der arabischen Länder sind Kopftücher selten zu | |
sehen. "Dennoch transportieren die Serien traditionelle Werte, die mit dem | |
Leben hier schwer zu vereinbaren sind", meint Matar. Küsse, selbst | |
Berührungen von Männern und Frauen seien tabu, das Zusammenleben von Paaren | |
ohne Trauschein gar unvorstellbar. "Die Diskrepanz zwischen dem, was die | |
Menschen im Fernsehen, und dem, was sie hier im Alltag sehen, ist riesig", | |
sagt der Familienberater: "Die dort vermittelten Werte lassen das Leben der | |
Menschen hier schlecht aussehen." Das verstärke die Probleme arabischer | |
Familien, mit dem Leben in der deutschen Großstadt zurechtzukommen. | |
Gleichzeitig erzeuge es ein falsches Bild von der Wirklichkeit in den | |
Herkunftsländern. Die hier lebenden Araber träumten deshalb "falsche | |
Träume", meint Matar: "Denn vom wirklichen Leben in der alten Heimat, von | |
den Schwierigkeiten, die die Leute dort haben, von sozialen Problemen | |
berichten die Sender kaum." | |
Raafat Matar ist deshalb entsetzt darüber, dass Radio Multikulti Ende des | |
Jahres abgeschaltet wird: "Für die Integrationschancen der hier lebenden | |
Araber ist das eine Katastrophe." Dreimal wöchentlich jeweils 45 Minuten | |
berichtet der RBB-Sender bisher in arabischer Sprache über das Leben in | |
Deutschland und Berlin: "Das ist das einzige Angebot in der deutschen | |
Medienlandschaft, das auf die Lebenssituation und die Alltagsprobleme | |
dieser Bevölkerungsgruppe eingeht", sagt Matar. "Sollen diese | |
Medienkonsumenten von nun an allein dem Einfluss der arabischen Sender | |
überlassen werden?" In vielen Familien reichten die Deutschkenntnisse für | |
die Nutzung deutscher Medien noch nicht aus. Ginge es nach ihm, müsse das | |
Angebot deshalb eher noch verstärkt werden: Fernsehen sei nun mal das | |
beliebteste Medium der arabischen Zuwanderer, so Matar: "Was wir brauchen, | |
ist Multikulti TV!" | |
24 Jun 2008 | |
## AUTOREN | |
Alke Wierth | |
## TAGS | |
Film | |
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