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# taz.de -- Laufzeiten und Reststrom: Die Notoperation der Atomindustrie
> Solange der rot-grüne Atomkonsens gilt, sind drei Reaktoren nur durch den
> Transfer von Strom am Leben zu erhalten. Experten zweifeln an der
> Rechtmäßigkeit.
Bild: Strommasten in der Nähe des Akw Gräfenrheinfeld.
Auf den ersten Blick streitet die Union über ein Problem der fernen
Zukunft: ob die Atomkraftwerke acht Jahre länger laufen dürfen, wie
Bundesumweltminister Norbert Röttgen fordert, oder 20 Jahre, wie manche
seiner Parteifreunde wollen. Den Konzernen könnte das im Moment egal sein.
Für sie zählt, dass sie in jedem Fall alle Reaktoren zunächst am Netz
lassen dürften.
Viel wichtiger ist für die Betreiber derzeit die Frage, wann über die
Laufzeiten entschieden wird. Denn derzeit gilt weiter der von Rot-Grün
ausgehandelte "Atomkonsens" - und der bedeutet für mehrere Reaktoren das
baldige Aus, weil sie die ihnen gesetzlich zugestandene Strommenge
erreichen. Bei Neckarwestheim I in Baden-Württemberg ist das schon in
wenigen Wochen der Fall; das derzeit abgeschaltete hessische AKW Biblis A
darf noch etwa ein halbes Jahr Strom produzieren, der bayerische Reaktor
Isar 1 ein gutes Jahr.
Doch bis dahin wird es kein neues Gesetz geben. Bundesumweltminister
Röttgen will erst ein Gesamtkonzept für die künftige Energieversorgung
abwarten, das frühestens im Herbst vorliegt. Bis sich die Koalition dann
über Laufzeiten und Verfahren einigt und das Parlament eine gesetzliche
Grundlage schafft, dürfte ein weiteres halbes Jahr vergehen.
Um zu verhindern, dass ihre ältesten Kraftwerke vorher stillgelegt werden,
bleibt den Betreibern - neben Tricks wie gedrosselter Leistung und
verlängerter Wartung - nur eine Möglichkeit: Sie müssen Strommengen von
einem AKW zum anderen übertragen. Diese Möglichkeit hatte Rot-Grün
eigentlich vorgesehen, damiti ältere Reaktoren früher und neuere im
Gegenzug später vom Netz gehen können. Dcoh unter bestimmten Bedingungen
können auch Alt-Reaktoren davon profitieren.
Als ausgemacht gilt bereits, dass dabei die Strommengen des AKW Stade
genutzt werden sollen. Weil dies 2003 vorzeitig stillgelegt wurde, darf das
verbliebene Stromkontingent auf jedes andere Kraftwerk übertragen werden.
Mit dieser Menge könnten Neckarwestheim I und Biblis A jeweils rund drei
Monate länger laufen. Sowohl der Bundesumweltminister als auch seine
Länderkolleginnen Silke Lautenschläger (Hessen) und Tanja Gönner
(Baden-Württemberg) raten den Konzernen zu diesem Weg. Doch obwohl eine
solche Übertragung formal ohne Zustimmung der Bundesregierung möglich ist,
zweifeln Experten, ob dies unter Sicherheitsgesichtspunkten zulässig ist.
"Die Atomaufsicht muss eine Schadensvorsorge nach dem Stand von
Wissenschaft und Technik sicherstellen", sagt Gerhard Roller,
Atomrechtsexperte an der Fachhochschule Bingen."Dabei stellt sich immer
auch die Frage nach der Laufzeit, in diesem Fall: Ist Biblis A für diese
längere Restlaufzeit ausreichend sicher?"
Zweifel daran sind erlaubt. Denn nach einem Beinahe-GAU im Dezember 1987
nahmen Gutachter den Reaktor unter die Lupe. Als Folge erließ das hessische
Umweltministerium im März 1991, damals unter Leitung des heutigen
hessischen Finanzministers Karlheinz Weimar (CDU), 49 Auflagen zur
Nachrüstung des Reaktors. Unter anderem forderte er den Bau einer
unabhängigen Notstandswarte, von der aus der Reaktor auch bei einem Unfall
oder Brand noch sicher heruntergefahren werden können sollte.
Zehn Jahre später waren die Auflagen immer noch nicht umgesetzt. Im Zuge
des rot-grünen Atomkonsenses einigten sich Atomaufsicht und RWE mit Blick
auf die begrenzte Restlaufzeit auf ein abgespecktes Nachrüstungsprogramm
von nur noch 20 Punkten. Die Notstandswarte war nicht mehr darunter. "Das
war eine Frage der Verhältnismäßigkeit und hing mit den kurzen
Restlaufzeiten von Bibils zusammen", sagt der damalige Leiter der
Bundesatomaufsicht, Wolfgang Renneberg, der taz. Eine Erklärung des
Bundesumweltministeriums, die dem von RWE unterzeichneten Atomkonsens
anhängt, hielt dies Junktim fest. Falls die Laufzeiten nun verlängert
würden, sei eine "Neubewertung" bezüglich der Sicherheit vorzunehmen, sagt
Renneberg. Mitreden darf er jedoch nicht mehr: Röttgen hat ihn in den
vorzeitigen Ruhestand versetzt.
Die in Hessen für die Atomaufsicht zuständige Ministerin Silke
Lautenschläger (CDU) sieht hingegen kein Problem in einer Verlängerung der
Laufzeit. "Biblis erfüllt alles, was von den heutigen
Sicherheitsanforderungen gefordert wird", sagte sie der taz.
Experte Gerhard Roller glaubt nicht, dass diese Position haltbar ist.
Sollte Biblis A jetzt doch länger laufen dürfen, müssten die ursprünglichen
Nachrüstungsforderungen wieder auf den Tisch. Anwohner hätten das Recht,
ausreichende Sicherheitsvorkehrungen vor Gericht einzuklagen, erläutert
Roller. Dabei wären die ursprünglichen 49 Auflagen ein starkes Argument.
"Da hat die Behörde ja selbst Sicherheitsdefizite festgestellt."
Auch an den Rettungsplänen für den bayerischen Reaktor Isar 1 gibt es
Zweifel. Hier wollen die Betreiber offenbar Stromkontingente des nie in
Betrieb gegangenen Reaktors Mülheim-Kärlich nutzen. Weil diese aber laut
Gesetz ausdrücklich nicht nach Isar 1 übertragen werden dürfen, sollen sie
zunächst ans Kraftwerk Biblis B gehen, was in gewissem Umfang erlaubt ist.
Von dort sollen sie dann nach Isar 1 weitertransferiert werden. Jurist
Roller hält diesen Plan für unzulässig. "Das ist ganz klar eine Umgehung
der Bestimmungen des Atomgesetzes - zumal wenn RWE von vornherein die
Absicht hegt, die Strommengen auf Isar I weiter zu übertragen."
Auch Bayerns Umweltminister Markus Söder (CSU) scheint Zweifel an der
Realisierbarkeit dieses Plans zu haben. "Strommengenübertragungen
funktionieren im Fall Isar 1 nicht", sagte er der taz. Vor diesem
Hintergrund drängt er nun darauf, die Entscheidung über die Zukunft der
alten AKWs vorzuziehen. Diese solle noch vor Vorliegen des Energiekonzepts
der Bundesregierung bei einem "Energiegipfel" mit den Ländern fallen, und
zwar "schnellstmöglich", verlangte er in Berlin.
13 Feb 2010
## AUTOREN
M. Kreutzfeldt
A. Simon
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