# taz.de -- Debatte Spanien und die Franco-Diktatur: Das Ende der Aufklärung | |
> Spaniens Verfassungsrichter setzen alles daran, die Aufklärung des | |
> Völkermords während der Franco-Diktatur zu verhindern. | |
Die erste Schlacht des Zweiten Weltkriegs wurde in Spanien geschlagen - und | |
jetzt auch die letzte. Der Widerstand der spanischen Republikaner gegen den | |
Putsch vom 17. Juli 1936 wurde nach einem Bürgerkrieg am 1. April 1939 mit | |
Unterstützung des Dritten Reiches und von Mussolinis Italien gebrochen. Die | |
politischen Freiheiten und die Bürgerrechte wurden radikal unterdrückt. | |
Erst 1977 kehrte das Land zur Demokratie zurück. Jetzt verlangen die Opfer | |
Aufklärung und Gerechtigkeit. Einige Richter nehmen sich ihrer an. Allen | |
voran Baltasar Garzón. | |
Die Vertuschung von Völkermorden, etwa des Genozids an den Armeniern, hatte | |
schwerwiegende Folgen für Europa, wie auch ein Dokument aus den Nürnberger | |
Prozessen beweist. Darin befiehlt Hitler am 22. August 1939 seinen | |
Generälen den Einmarsch in Polen: "Ich habe den Befehl gegeben, […] daß das | |
Kriegsziel nicht im Erreichen von bestimmten Linien, sondern in der | |
physischen Vernichtung des Gegners besteht. […] Nur so gewinnen wir den | |
Lebensraum, den wir brauchen. Wer redet heute noch von der Vernichtung der | |
Armenier?" | |
Dank der militärischen und finanziellen Unterstützung durch Hitler und | |
Mussolini kam auch in Spanien die Vernichtungslogik gegen die Verteidiger | |
der Republik zur Anwendung. 300.000 Menschen wurden hingerichtet, über | |
115.000 Menschen wurden verhaftet und verschwanden. 3,4 Millionen wurden in | |
Todeslager gesperrt, gefoltert, zur Zwangsarbeit herangezogen, inhaftiert, | |
enteignet. 30.000 Kinder wurden ihren leiblichen Eltern weggenommen und mit | |
gefälschten Identitäten Franco-Anhängern ausgehändigt. Eine halbe Million | |
Spanier ging ins Exil. Zehntausende endeten in den KZs der Nazis. General | |
Franco machte sich das spanische Volk mithilfe des Terrors untertan. | |
Die Opfer konnten sich nie an ein Gericht wenden. Wer zwischen 1936 und | |
1977 Richter oder Staatsanwalt wurde, musste Caudillo Franco - dem | |
spanischen Führer - und seiner faschistischen Partei Falange Treue | |
schwören. Zwei Drittel der Staatsanwälte und der Richter, die heute am | |
Obersten Gerichtshof arbeiten, haben ebendiesen Eid geleistet. Nach Ende | |
der Diktatur wurde kein einziger Richter oder Beamte zur Rechenschaft | |
gezogen. | |
Dennoch hat Spanien nach seiner Rückkehr zur Demokratie eine Verfassung | |
entwickelt, die die Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit | |
ebenso wie die Verfolgung von Völkermord erlaubt, selbst wenn beide | |
Verbrechen außerhalb des eigenen Staatsgebietes stattgefunden haben, aber | |
in den betroffenen Ländern nicht verfolgt werden. Ab 1996 wandten sich | |
Opfer unter anderem aus Chile und Argentinien erfolgreich an spanische | |
Richter. 1999 wurde der ehemalige chilenische Diktator Augusto Pinochet auf | |
Betreiben des spanischen Richters Baltasar Garzón in London mit einem | |
internationalen Haftbefehl unter Hausarrest gestellt. | |
Es sollte allerdings bis 2006 dauern, bis die Opfer Spaniens dunkler | |
Geschichte in Spanien Anzeige erstatteten. Sie verlangen die Suche der | |
115.000 Verschwundenen und der 30.000 verschleppten Kinder, von denen viele | |
noch am Leben sein dürften. Am Obersten Strafgerichtshof werden die Fälle | |
per Losverfahren an die Richter vergeben. Wie es der Zufall wollte, landete | |
die Anzeige der Opfer der Franco-Diktatur bei Richter Garzón. Er eröffnete | |
am 16. Oktober 2008 ein Ermittlungsverfahren. Zum ersten Mal nach dem | |
Putsch von 1936 schenkte damit ein Richter den Opfern Gehör. | |
Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Im Dezember 2008 | |
unterband die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen. Und um die Gerichte | |
wieder vor den Opfern zu verschließen, musste die gesamte juristische | |
Klasse eingeschüchtert werden. Im Januar 2009 wurden fünf Anzeigen gegen | |
Richter Garzón vor dem Obersten Gerichtshof zugelassen, der bis heute von | |
Richtern dominiert wird, die einst den Treueschwur auf Franco geleistet | |
haben. Garzón wurde unter anderem vorgeworfen, er würde mit seinen | |
Ermittlungen gültiges Recht beugen. Die Anzeigen stammen von faschistischen | |
Gruppierungen - unter ihnen die Falange - und von Personen, die dem | |
korrupten Netzwerk rund um die Partido Popular angehören, deren Präsident | |
Minister unter Franco war. | |
Im Mai 2010 schließlich wurde Garzón vom Dienst suspendiert. Dies ist der | |
erste Schritt zu seiner Verurteilung und Entfernung aus dem Richteramt - | |
ein schwerer Verstoß gegen die Unabhängigkeit der Richter, wie sie in der | |
spanischen Verfassung von 1978 und in der Europäischen | |
Menschenrechtskonvention festgeschrieben ist. | |
Die Botschaft an die rund 4.000 spanischen Richter ist klar: Wer den Opfern | |
des Faschismus die Tür öffnet, wird aus dem Dienst entfernt. Die formelle | |
Rechtfertigung der Anklage wegen Rechtsbeugung stützt sich auf das 1977 vom | |
ersten wieder frei gewählten Parlament verabschiedete Amnestiegesetz. Neben | |
den "politisch motivierten Straftaten" des antifaschistischen Widerstandes | |
würde das Gesetz auch für die faschistischen Verbrechen im Rahmen des | |
Völkermordes selbst gelten, heißt es. Das aber ist ein Trugschluss. Denn | |
das Amnestiegesetz respektiert ausdrücklich "gültige internationale Normen | |
und Konventionen", die zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens gültig waren. | |
Dazu gehören das Abkommen, das Völkermord verfolgt, und der Internationale | |
Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte. Beide schließen die | |
"politische Motivation" bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit aus. | |
Das Oberste Gericht nutzt also den Prozess gegen Garzón, um ad hoc eine | |
Doktrin zu schaffen, die den Richter nicht nur bestrafen, sondern zudem | |
verhindern soll, dass diese Verbrechen jemals wieder untersucht werden | |
können. Der Prozess gegen Garzón ist eine Justizposse. | |
Während von der Türkei verlangt wird, die Schuld am Genozid an den | |
Armeniern anzuerkennen, werden am anderen Ende des Mittelmeers die | |
Ermittlungen in Sachen Völkermord gegen die Republikaner untersagt - und | |
zwar mitten in einer Situation, die der Präsident der Europäischen | |
Zentralbank, Trichet, als die schwierigste seit 1918 bezeichnet. | |
Aus dem Spanischen übersetzt von Reiner Wandler | |
7 Jun 2010 | |
## AUTOREN | |
Joan E. Garcés | |
## TAGS | |
Spanien | |
Graphic Novel | |
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