| # taz.de -- Debatte Unser Israel (4): Eine komplizierte Geschichte | |
| > Deutschland steckt gegenüber Israel in einem Dilemma. Kein anderer | |
| > befreundeter Staat verletzt so andauernd Völker- und Menschenrecht. | |
| Bild: Eine israelische Soldatin stellt Israel-Fähnchen auf Soldatengräber. | |
| Unser Israel? Unser Israel! Die Schwierigkeiten, in Deutschland zum | |
| Konflikt zwischen dem Staat Israel und den Palästinensern Stellung zu | |
| nehmen, entspringen einem Dilemma: Einerseits ist der Staat Israel aufgrund | |
| der Verantwortung Deutschlands für die nationalsozialistische | |
| Massenvernichtung an sechs Millionen europäischen Juden nicht nur | |
| Gegenstand besonderer politischer Fürsorge. Er ist auch - soweit das bei | |
| Staaten überhaupt möglich ist - ein enger Freund. Freilich erstreckt sich | |
| die politische Verantwortung Deutschlands für das jüdische Volk keineswegs | |
| nur auf den Staat Israel. Aus diesem Grunde ließ die Bundesrepublik | |
| russische Juden nach dem Ende der Sowjetunion - auch gegen den erklärten | |
| Widerstand Israels - vergleichsweise großzügig einwandern. | |
| Allerdings: Sosehr der Staat Israel ein enger politischer Freund ist, so | |
| sehr gilt ebenso, dass kein anderer befreundeter Staat das Völkerrecht und | |
| Menschenrechte seit mehr als vierzig Jahren so kontinuierlich verletzt, wie | |
| es Israel im Westjordanland und in Gaza tut. Vergleichbar ist das deutsche | |
| Dilemma gegenüber Israel allenfalls mit dem Verhältnis zu den USA zu Zeiten | |
| des Vietnamkrieges oder im "Krieg gegen den Terror", Stichworte: Abu Ghraib | |
| und Guantánamo. | |
| Zu fragen ist, ob sich für Israels Verstöße gegen Völker- und Menschenrecht | |
| gute moralische oder politische Gründe ins Feld führen lassen. Etwa, ob die | |
| überwiegend ideologisch begründete, kaum noch reversible Siedlungspolitik | |
| im Westjordanland ein guter Weg ist, um die Existenz des Staates in einem | |
| feindlichen Umfeld zu sichern? Ob die Abriegelung Gazas die antisemitische | |
| Hamas geschwächt hat? Und welchen Nutzen die Schikanen an den | |
| Straßensperren im Westjordanland sowie die Abschiebung von Palästinensern, | |
| die ihren Wohnsitz in Jerusalem haben und keine Ausländer sind, bringen? | |
| Natürlich gibt es andere Staaten, die quantitativ und qualitativ sehr viel | |
| intensiver gegen Völker- und Menschenrecht verstoßen als Israel, darunter | |
| Länder wie Russland, China oder die Türkei. Doch kann es bei einer | |
| moralisch sensiblen Politik nicht um das Abarbeiten einer Negativliste | |
| gehen, an deren Ende irgendwann der Staat Israel steht. Man kann es drehen | |
| und wenden, wie man will: Aufgrund des Holocaust wird Israel im deutschen | |
| Bewusstsein immer einen anderen Platz einnehmen als Kirgisien oder der | |
| Kongo. Und: Wer nicht versteht, dass wir, wenn wir über Israel diskutieren, | |
| weniger einen Beitrag zur Lösung des Nahostproblems liefern als einen | |
| Beitrag zu unserem Verhältnis zur NS-Vergangenheit, sollte sich an der | |
| Debatte besser nicht mehr beteiligen. | |
| Was die moralische Haltung der politische Klasse, Öffentlichkeit und | |
| Zivilgesellschaft hierzulande gegenüber Israels Politik betrifft, gibt es | |
| zwei Extrempositionen, die in vielfältigen Variationen auftreten. Auf der | |
| einen Seite eine schuld- und schambewusste Gesinnungsposition: Nach dem, | |
| was Deutsche Juden im Holocaust angetan haben, steht es weder deutscher | |
| Politik noch ihrer Öffentlichkeit zu, israelische Politik zu kritisieren | |
| oder gar zu beeinflussen. Dem steht auf der anderen Seite ein | |
| verantwortungsethisches Argument entgegen: Gerade weil Deutschland und | |
| Deutsche sechs Millionen europäischer Juden ermordet haben, ist es die | |
| Pflicht Deutschlands, den Staat Israel - im Zweifel auch gegen den Willen | |
| seiner Regierungen - von Handlungen abzuhalten, die seine Sicherheit | |
| gefährden. Wird also dort politische Scham mit der Überzeugung verbunden, | |
| dass israelische Regierungen auf jeden Fall besser beurteilen können, was | |
| der Sicherheit ihres Staates dient, so wird hier Verantwortung mit der | |
| Vermutung verbunden, dass sich sogar israelische Regierungen bei der | |
| Wahrnehmung ihrer Interessen irren können. | |
| Dabei gehen beide Positionen von gemeinsamen Grundannahmen aus: Erstens, | |
| dass der Staat Israel eine unmittelbare Folge des Holocaust ist, sowie | |
| zweitens, dass der Staat Israel das einzige Mittel ist, Juden vor weiteren | |
| Diskriminierungen, Verfolgungen und Massenmorden zu schützen. Beide | |
| Annahmen sind jedoch bestreitbare: Das eine ist eine historische Hypothese, | |
| das andere eine Prognose. | |
| Dazu nur zwei Anmerkungen: Erstens beginnt die Geschichte der israelischen | |
| Staatsgründung - sowie der Konflikt mit den palästinensischen Arabern - im | |
| späten 19. Jahrhundert. Die große, konfliktverschärfende Masseneinwanderung | |
| der 1920er und frühen 1930er Jahre kam aus dem damals antisemitischen | |
| Polen, nicht aus Deutschland oder Österreich. Und ohne die Zustimmung der | |
| Sowjetunion wäre es nie zum völkerrechtlich bindenden UN-Teilungsbeschluss | |
| Palästinas gekommen. Das Motiv des Antisemiten Stalin, dem Teilungsplan | |
| zuzustimmen, war nicht die Sorge um das jüdische Volk, sondern das | |
| strategische Ziel, den britisch dominierten Nahen Osten durch einen | |
| sozialistischen Staat zu unterminieren. | |
| Und schließlich: Obwohl viele Holocaustüberlebende dort nach 1947 Zuflucht | |
| fanden, ist Israel nicht der Staat der Überlebenden - die allermeisten | |
| seiner jüdischen Einwohner hatten und haben eine andere Herkunft. | |
| Was jedoch die Zukunft betrifft: Wenn die wahnsinnige, atomare | |
| Rüstungspolitik der Islamofaschisten im Iran von etwas zeugt, dann, dass es | |
| der Staat Israel ist, der dadurch von einem atomaren Massenmord bedroht | |
| wird. Das aber stellt seine Funktion als Rettungsanker für bedrohte Juden | |
| in aller Welt infrage. | |
| Wenn weder Rettungsfantasien noch historische Hypothesen die hohe Bedeutung | |
| Israels im deutschen Bewusstsein begründen können, was dann? Das ist die | |
| Frage, die künftige Generationen deutscher PolitikerInnen, der | |
| Öffentlichkeit und der Zivilgesellschaft zu beantworten haben. Sie werden | |
| gut daran tun, sich dabei an jener Maxime zu orientieren, die der Öffnung | |
| für die jüdische Immigration aus der ehemaligen UdSSR zugrunde lag. Dabei | |
| ging es darum, für die Zukunft ein vielfältiges jüdisches Leben in | |
| Deutschland zu fördern und zu sichern. Für die meisten Juden aber - | |
| unabhängig davon, ob sie dort leben oder nicht - spielt Israel eine | |
| existenziell wichtige Rolle; sei es ob verwandtschaftlicher Bindungen, | |
| religiöser Überzeugungen oder ihres kulturellen Selbstverständnisses. | |
| Wenn deutsche Politik willens ist, sich der NS-Vergangenheit zu stellen und | |
| - anstatt nur zähneknirschend Haftungspflichten zu akzeptieren - dafür eine | |
| zukunftsgerichtete Verantwortung zu übernehmen, wird die Politik | |
| israelischer Regierungen sowie der vielstimmige, oft gegensätzliche Diskurs | |
| von Juden über diese Politik auch weiterhin eines ihrer zentralen Themen | |
| sein müssen. Freilich: Wie in allen anderen Politikfeldern wird auch die | |
| Frage, wie die Sicherheit dieses Staates und das Leben seiner Bürger am | |
| effektivsten garantiert werden können, umstritten sein. Aber das ist | |
| demokratische Normalität. | |
| *** | |
| Die vorheringen Beiträge der Debattenreihe "Unser Israel": [1][Keine innere | |
| Angelegenheit] von Tsafrir Chohen, [2][Deutsche nach Gaza?] von Muriel | |
| Asseburg und [3][Feiger Hass] von Stephan Kramer. | |
| 2 Jul 2010 | |
| ## LINKS | |
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| [2] /1/debatte/kommentar/artikel/1/deutsche-nach-gaza/ | |
| [3] /1/debatte/kommentar/artikel/1/feiger-hass/ | |
| ## AUTOREN | |
| Micha Brumlik | |
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