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# taz.de -- NRW-Grünen-Chefin Löhrmann: "Mal kocht die eine, mal die andere"
> Experiment Minderheitsregierung in NRW: Die designierte Vizechefin Sylvia
> Löhrmann hofft auf "wechselnde Mehrheiten" und preist die "neue Kultur
> der Demokratie".
Bild: "Die Unzufriedenheit mit dem bestehenden Schulsystem ist groß."
taz: Frau Löhrmann, Nordrhein-Westfalen ist fünfmal so groß wie alle
übrigen Länder mit grüner Regierungsbeteiligung zusammen, im Bund ist Ihre
Partei in der Opposition. Wie fühlen Sie sich als mächtigste
Grünen-Politikerin Deutschlands?
Sylvia Löhrmann: Das sind doch männliche Zuschreibungen. Wir haben einen
guten Wahlkampf gemacht. Jetzt freue ich mich, dass wir mit der
Regierungsarbeit anfangen können.
Sie gelten als heimliche Ministerpräsidentin. Dass es überhaupt eine
Minderheitsregierung gibt, war Ihre Entscheidung, nicht die der SPD.
Ich habe zu einem bestimmten Zeitpunkt deutlich gemacht, was ich politisch
für klug halte. Aber Sie müssen sehen: Hannelore Kraft hat eine viel
schwierigere Rolle inne als ich. Sie ist es, die sich dem Risiko einer Wahl
stellen musste. Jetzt regieren wir gemeinsam, darauf kommt es an.
Sind Sie die Köchin, und Frau Kraft kellnert?
Quatsch - mal kocht die eine, mal die andere, mal kochen wir zusammen.
Entscheidend ist, dass die Rezepte stimmen und wir über den Menüplan einig
sind.
Bei den Koalitionsverhandlungen kamen Sie mit durchgerechneten Konzepten,
die Sie für Schwarz-Grün vorbereitet hatten. Die SPD war auf Opposition
eingerichtet und deshalb nicht präpariert.
Das mag eine Wahrnehmung von außen sein, ist aber nicht unsere Denke. Für
uns sind die Inhalte entscheidend. Da freuen wir uns, dass wir Rot-Grün
unter diesen Umständen anders gestalten können, als es in der Vergangenheit
der Fall war. Und natürlich sind wir ein eigenständiger Partner.
Sehen Sie Ihre Minderheitsregierung als Modell für den Bund, wie es
SPD-Chef Sigmar Gabriel formuliert hat?
Jedes Land, jede politische Ebene hat spezifische Bedingungen. Aber eines
kann Vorbild sein: die neue Kultur der Demokratie, auf die wir mit unserer
Koalition der Einladung zielen.
Erhört wird die Einladung wohl nur von der Linkspartei, obwohl Sie eine
Tolerierung zuvor ausgeschlossen haben.
Eine Tolerierung ist eine vertragliche Regelung. Wir setzen auf wechselnde
Mehrheiten. Bei der Abschaffung der Studiengebühren ist wohl eher die
Linkspartei dabei - anders als im Saarland, wo wir das mit CDU und FDP
realisieren. Bei der Integration von Menschen mit Behinderungen zeigt sich
dagegen die CDU sehr offen. Die FDP schließlich wird sich dem kostenfreien
Kitajahr kaum verweigern können.
Glauben Sie wirklich, dass Ihnen ausgerechnet diese Parteien aus der
Patsche verhelfen?
Wer sich ständig verweigert, wird seiner Verantwortung gegenüber dem Land
nicht gerecht - und muss sich dann auch der Frage von Neuwahlen stellen.
Das scheut die Opposition, angesichts der aktuellen Umfragen und des
schwarz-gelben Desasters in Berlin. Zumindest einige Abgeordnete dürften da
ein überraschendes Stimmverhalten an den Tag legen. Oder sie finden sich
bei der entscheidenden Haushaltsabstimmung nicht im Plenum ein. Wenn das
nur zwei Kollegen aus den anderen Fraktionen tun, würde es für eine
Mehrheit schon genügen.
Wen haben Sie da im Blick?
Die FDP müsste momentan am meisten um den Wiedereinzug in den Landtag
bangen.
Dass sich die FDP doch noch zu einem Regierungseintritt entschließt,
glauben Sie nicht?
Bei den Sondierungsgesprächen hatten wir geradezu den Eindruck, mit zwei
verschiedenen Parteien zu verhandeln. Diesen Richtungsstreit muss die FDP
selbst entscheiden, unsere Aufgabe ist das nicht.
Die Grünen sind dazu bereit - trotz extremistischer Ansätze in der FDP, wie
ihr designierter parlamentarischer Staatssekretär sagte?
Innerhalb des demokratischen Spektrums ist die Linke das staatsfixierte
Extrem, die FDP das entgegengesetzte.
Die Grünen sind die Mitte?
Zumindest im Verhältnis zu diesen kleinen Konkurrenten. Wir wollen, dass
der Staat einen ordnungspolitischen Rahmen setzt. Als Partei der
Zivilgesellschaft wissen wir aber, dass sehr viel von unten wachsen kann.
Wenn es vorgezogene Neuwahlen gibt, ist Schwarz-Grün wieder eine Option -
womöglich mit einem CDU-Landesvorsitzenden Norbert Röttgen?
Unsere Strategie hat sich bewährt, Rot-Grün zu wollen und darüber hinaus
Zweitoptionen zu haben. Die Wähler haben es uns abgenommen, dass wir das
streng an Inhalten entscheiden. Dann kommt es darauf an, auch einen
möglicherweise grün wirkenden CDU-Landesvorsitzenden zu enttarnen - der
sich ja jetzt beim Atomausstieg offenbar nicht durchsetzt.
Das Risiko des Scheiterns liegt bei Frau Kraft, nicht bei Ihnen?
Leben ist immer lebensgefährlich, das gilt für alle Beteiligten.
Als erstes beschließen Sie eine zusätzliche Neuverschuldung von 2,4
Milliarden Euro. Ist das grüne Nachhaltigkeit?
Wir legen die wahre Situation des Haushalts offen, die Schwarz-Gelb
systematisch verschleiert hat. Wenn es die wirtschaftliche Situation
zulässt, werden wir ab 2011 konsolidieren. Das ist unser gemeinsames Ziel.
Ist eine Minderheitsregierung besonders teuer, weil sie von Linkspartei bis
FDP Stimmen zusammenkaufen muss?
Es geht nicht um Geschenke. Wir setzen um, wofür wir gewählt worden sind.
Setzen Sie den Rotstift an, wird die Linke kaum zustimmen.
Auch die Linke kann sich einer zukunftsorientierten Haushaltspolitik nicht
verschließen.
Beim Thema Klimaschutz ist der Koalitionsvertrag besonders lau. Sie halten
sich eine Verlängerung des Kohlebergbaus offen, schließen den Neubau von
Kohlekraftwerken nicht aus - und formulieren ein weniger ambitioniertes
Klimaziel als Schwarz-Gelb in Berlin.
Moment mal. Über den Kohleausstieg wird in Berlin entschieden, nicht in
Düsseldorf. Im Übrigen hat RWE schon erklärt, dass der Konzern in ganz
Europa keine neuen Kohlekraftwerke bauen will. Uns kommt es auf vernünftige
Ergebnisse an, nicht auf Verbalradikalismus.
Ihr Bundesland ist der größte Klimasünder Deutschlands. NRW produziert ein
Drittel der bundesweiten Emissionen, bei einem knappen Viertel der
Bevölkerung. Müssten Ihre Klimaziele ambitionierter sein?
Wir meinen unsere Ziele ernst, das ist der Unterschied. Schwarz-Gelb hat
keinen konkreten Umsetzungsplan. Wir haben dagegen nur das aufgeschrieben,
was wir wirklich schaffen können.
Trotzdem haben wir den Eindruck, Ihre Kollegen in Hamburg und dem Saarland
haben mit der CDU mehr durchgesetzt als Sie im Bündnis mit der SPD.
Diesen Eindruck teile ich nun gar nicht.
In der Bildungspolitik geht Hamburg viel weiter. Dort wird die
Gemeinschaftsschule flächendeckend eingeführt.
Das ist ein völlig anderer Ansatz unter völlig anderen Bedingungen - nicht
Stadtstaat, sondern großes Flächenland. Wir wollen keinen Schulkrieg,
deshalb haben wir lange vor der Hamburger Reform unser eigenes Modell
entwickelt. Das Land trägt auch weiterhin die Verantwortung für das
staatliche Schulwesen, aber innerhalb dieses Rahmens entscheiden die
Kommunen über das örtliche Angebot.
Frau Kraft hätte die Reform lieber von oben herab dekretiert?
Keine Ahnung. Ein solcher Vorschlag stand jedenfalls mit uns nicht zur
Debatte.
Warum sind Sie so sicher, dass Sie tatsächlich eine Quote von 30 Prozent
Gemeinschaftsschulen erreichen - wenn etwa im schwarzen Münsterland die
Anträge ausbleiben?
Weil ich gerade aus dem Münsterland gefragt werde, wann wir die
Gemeinschaftsschulen endlich genehmigen. Die demografische Entwicklung ist
unser wichtigster Bündnispartner. Bevor ein Bürgermeister wegen
schrumpfender Schülerzahlen die Schulen am Ort verliert, wird er sie lieber
zusammenlegen. Egal, welcher Partei er angehört.
In Hamburg steht die Gemeinschaftsschule am Sonntag zur Abstimmung. Wird
Ihr Reformeifer vom Ausgang abhängen?
Keineswegs. Unser Programm ist beschlossen und für NRW klug angelegt.
Welche Folgen hat das Referendum bundesweit?
Wenn die Gegner gewinnen, wird es die Reformbereitschaft leider lähmen.
Ist das Land bereit für Veränderungen?
Ja, die Unzufriedenheit mit dem bestehenden Schulsystem ist groß. Aber wenn
Reformen gefühlt zu radikal ausfallen, setzen Abwehrreflexe ein. Das haben
wir in der Auseinandersetzung um die Gesamtschulen in den Siebziger Jahren
erlebt.
Würden Sie Ihre Schulreform lieber wie in Hamburg gemeinsam mit einem
CDU-Regierungschef durchsetzen, statt gegen eine geschlossene Front der
Konservativen zu kämpfen?
Eine geschlossene Front gibt es in NRW nicht. Aber Sie meinen, ich wünsche
mir einen Ole von Rüttgers? Um mir ein solches Wesen vorzustellen, reicht
meine Fantasie nicht aus.
14 Jul 2010
## AUTOREN
R. Bollmann
M. Lohre
A. Wyputta
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