# taz.de -- Wie Wärmedämmung Städte verändert: Hinter blinden Fenstern | |
> Wärmedämmung ist das Gebot der Stunde. Doch damit verändert sich auch das | |
> Bild der Hausfassaden – und die Rolle der Fenster als Schnittstelle | |
> zwischen öffentlich und privat. | |
Bild: Der Zollverein-Kubus in Essen, erbaut 2003. | |
Mit den Architekten hatte sich Boris Palmer bislang nicht angelegt. Doch im | |
März betonte der grüne Oberbürgermeister auf einer "Konferenz zur Schönheit | |
und Lebensfähigkeit der Stadt", dass das Bedürfnis nach Ästhetik nicht über | |
den existenziellen Fragen der Menschheit stehen dürfe. Notfalls, drohte | |
Palmer, wolle er ganz Tübingen "einpacken". Daraufhin wetterte der | |
Architekt Hans Kollhoff wider den Dämmstoffwahn. Wenn immer mehr Häuser mit | |
18 Zentimetern Styropor und Kunstharzputz verkleidet würden, gehe jede | |
architektonische Qualität verloren. Steht Deutschland vor einem neuen | |
Architekturstreit? | |
Zunächst einmal stehen Eigentümer und Bauherren vor einem Problem. Die | |
meisten Häuser in Deutschland sind Energieschleudern. Energetische | |
Sanierung heißt darum das Gebot der Stunde. Gefördert wird sie unter | |
anderem von der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Bedingung: Die | |
Dämmstoffplatten müssen mindestens 10 Zentimeter dick sein. Als optimal | |
gelten 18 Zentimeter. Die packt man dann auf die Außenwand des Reihen- oder | |
Stadthauses - und freut sich auf den Energiepass. | |
So sehen es Boris Palmer und die Dämmstoffindustrie. Architekten, | |
Denkmalschützer und Bauherren sehen es oft anders. Die Häuslebauerforen | |
sind inzwischen voll von Klagen über den sogenannten Schießscharteneffekt. | |
Mit der Außendämmung nämlich verschwindet das Fenster in dem Maße, in dem | |
die Fassade auf die Straße wächst - mit Folgen für beide Seiten. Wer von | |
drinnen nach draußen schaut, klagt plötzlich über eingeengte Blickwinkel | |
und Mangel an Licht. Von der Straße aus betrachtet sieht das Gebäude wie | |
ein müdes Gesicht aus, die Fensteraugen in tiefen Höhlen vergraben. Das hat | |
nicht nur ästhetische Folgen, wie sie Hans Kollhoff beklagt. Einhergeht die | |
energetische Sanierung auch mit einem kulturellen Verlust - der Abwertung | |
der Fenster als Durchlass zwischen dem öffentlichen und dem privaten Raum | |
einer Stadt. | |
Über die soziale Funktion des Fensters schrieb einmal Franz Kafka: "Wer | |
verlassen lebt und sich doch hie und da irgendwo anschließen möchte, wer | |
mit Rücksicht auf die Veränderungen der Tageszeit, der Witterung, der | |
Berufsverhältnisse und dergleichen ohne weiteres irgendeinen beliebigen Arm | |
sehen will, an dem er sich halten könnte, der wird es ohne Gassenfenster | |
nicht lange treiben." So bietet das Fenster dem Bewohner den Kontakt mit | |
der Außenwelt. Die amerikanische Stadtsoziologin Jane Jacobs nannte das | |
einmal "die Augen auf die Stadt". | |
Aber es gibt auch die Augen der Stadt aufs Private, wie unlängst Matti | |
Geschonnek mit seiner Verfilmung von Friedrich Anis Krimi "Hinter blinden | |
Fenstern" zeigte. Die nämlich verbergen, irgendwo in einem | |
kleinbürgerlichen Stadtteil Münchens, das Schicksal von Menschen, die | |
irgendwann zu Verbrechern werden. Ohne blinde Fenster, so die symbolische | |
Botschaft des Films, gäbe es mehr Anteilnahme, Austausch, Anstand. So ist | |
das Fenster also tatsächlich ein Auge mit all seinen Fähigkeiten: sehen und | |
gesehen werden, Kommunikation, aber auch Kontrolle. Erst dieses | |
Aufeinandertreffen von Öffentlichkeit und Privatheit bildet jenes Amalgam | |
der Urbanität, das wir heute so schätzen. Eine Straße ohne Fenster hätte | |
etwas ebenso Bedrohliches wie das Wort von den "blinden Fenstern". | |
Dass das Fenster, wie kaum ein anderes architektonisches Element, gebaute | |
Kulturgeschichte ist, hat eben erst Rolf Selbmann in Erinnerung gerufen. In | |
seinem 224 Seiten starken Parforceritt durch die "Kulturgeschichte des | |
Fensters" hat er zahlreiche Beispiele aus der Malerei und der Literatur | |
zusammengetragen: von der Antike, in der sich die Paläste vornehmlich zum | |
Innenhof öffneten, bis zur Postmoderne, in der sich die Fenster, wie beim | |
gleichnamigen Betriebssystem, überlagern. Die Geschichte des Fensters ist | |
also auch die der bürgerlichen Öffnung vom Privaten in die Öffentlichkeit. | |
So illustriert Pieter Bruegel d. Ä. in seinem Gemälde "Die niederländischen | |
Sprichwörter" anhand eines durchs Dachfenster wachsenden Baums die | |
Redensart "Es wächst zum Fenster heraus". Soll heißen: Nichts bleibt im | |
Verborgenen. | |
Nirgendwo war diese Öffnung ins Öffentliche so ausgeprägt wie in der | |
Bürgerstadt Danzig mit ihren sogenannten Beischlägen. Diese | |
terrassenförmige Verlagerung der Treppenschwelle in den Stadtraum markierte | |
einen neuen Raum: nicht privat, nicht öffentlich - eine Mischung aus | |
beidem. Auf dem Beischlag zeigten sich die Kaufleute den Bewohnern, ohne | |
auf die Straße zu treten, und die Bewohner traten mit den Bürgern in | |
Kontakt, ohne an der Tür zu klingeln. So waren die Beischläge eine Art | |
Verlängerung des Fensters in die Stadt. | |
Die Gestalt der Fenster sagt also immer etwas aus über den Umgang einer | |
Gesellschaft mit Öffentlichkeit und Privatheit. In den calvinistischen | |
Niederlanden soll und kann keiner etwas verbergen, deshalb gibt es keine | |
Gardinen. In der islamischen Gesellschaft sind die Innenräume eines | |
Wohnhauses durch Fenster mit Lamellen geschützt. Rausgucken ist erlaubt, | |
der Blick ins Innere, womöglich sogar auf die Frau des Hauses, untersagt. | |
Vor diesem Hintergrund hat auch der Schießscharteneffekt der energetischen | |
Sanierung mehr als eine ästhetische und ökologische Komponente. Nolens | |
volens verweist er auf eine schleichende Veränderung im urbanen Gefüge. Je | |
mehr der Beruf die permanente Verfügbarkeit des Einzelnen verlangt, desto | |
stärker ist das Bedürfnis auf Rückzug in den physischen Raum des Privaten. | |
Diese Privatisierung der Lebensstile ist zugleich das Alter Ego einer | |
zunehmenden Privatisierung des öffentlichen Raums und öffentlichen | |
Eigentums. So entstehen derzeit immer mehr blinde Fenster: bei der | |
Wasserversorgung, beim Verkauf kommunaler Flächen, bei der Sperrung von | |
Uferwegen. Es zerfällt also, was in der Großstadt eigentlich | |
zueinandergekommen ist: öffentlich und privat, das Selbst und das Fremde. | |
Der kriegerische Hintergrund des Begriffs Schießscharte ist nicht einmal | |
übertrieben. | |
Immerhin: Es gibt Widerstand. Die Ersten, die sich gegen die | |
Wärmeverbundslobby zur Wehr setzten, waren nicht die Architekten, sondern | |
die Denkmalschützer. An historischen Gebäuden mit ihren oftmals reich | |
verzierten und gegliederten Fassaden darf eine Außendämmung nur an der | |
Hofseite angebracht werden. Bei der Straßenseite verlangen die unteren | |
Denkmalschutzbehörden zumeist eine Innendämmung. Doch das ist nicht selten | |
ein Problem. Im Gebäude angebrachte Dämmplatten bringen oft Kondenswasser | |
in die Innenräume. Um das zu verhindern, sind oft komplizierte und teure | |
Verfahren nötig. | |
Die Sanierer von Eigenheimen wiederum würden gerne ihre Fenster nach einer | |
Außendämmung "hinausmauern". Doch das ist nicht minder kompliziert und | |
kostet viel Geld. Geld, das auch die öffentliche Hand nicht geben will. | |
Gefördert wird nur die Dämmung: Wer sein Fenster bündig mit der Fassade | |
haben will, muss das selbst bezahlen. Auch deshalb beklagte sich Hans | |
Kollhoff beim Kongress im März, dass die Gesellschaft sich darüber klar | |
werden müsse, dass ihr nicht nur die Verminderung des CO2-Ausstoßes etwas | |
wert sein müsse, sondern auch die Gestalt der Städte. | |
Zumindest die Degewo, mit 60.000 Wohnungen Berlins größte | |
Wohnungsbaugesellschaft, hat die Botschaft verstanden. "Wir haben Respekt | |
vor der Architektur, und wir haben Respekt vor dem Architekten", sagt | |
Jacqueline Brüschke, die unter anderem die Sanierung des Schillerhofs | |
betreut, vor Kurzem erst zum Welterbe der Unesco erklärt. Aber auch im | |
nicht denkmalgeschützten Bestand wird bei der Degewo nicht drauflosgedämmt. | |
"Um den Schießscharteneffekt zu vermeiden, haben wir in der Gropiusstadt | |
die Fenster in der Ebene rausgesetzt." Der Grund: Eine Innendämmung hätte | |
die ohnehin kleinen Wohnungen noch einmal verkleinert. | |
Den bislang radikalsten Vorschlag haben Kerstin Molter und Mark Linnemann | |
unterbreitet. "Wärmedämmverbundsystem und Verbrechen" heißt ein Beitrag der | |
Architekten in der jüngsten Ausgabe der Architekturzeitschrift Bauwelt, mit | |
dem sie den grünen Überzeugungstäter Boris Palmer mit den eigenen Waffen | |
schlagen. Nicht sozial und kulturell nämlich argumentieren Molter und | |
Linnemann, sondern ökologisch: "Das Wärmedämmverbundsystem lässt sich nicht | |
mehr in einen Kreislauf zurückführen", schreiben sie. "Es endet auf einer | |
Bahre, als Sondermüll." Ihr Vorschlag: Anstatt Tübingen einzupacken, soll | |
man lieber mehr Energie sparen und regenerative Energien fördern. | |
29 Sep 2010 | |
## AUTOREN | |
Uwe Rada | |
## TAGS | |
Peter Altmaier | |
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