# taz.de -- Radikale Anti-Abtreibungs-Aktivisten: Leben um jeden Preis | |
> Mit Plastikembryos auf Jugendmessen, mit weißen Kreuzen in Innenstädten: | |
> Abtreibungsgegner sehen sich als Aufklärer - und werden selbst von | |
> deutschen Ministern unterstützt . | |
Bild: Kaum so lang wie ein Daumen und etwas dicker: Plastik-Figuren, die Embryo… | |
Die Plastikembryos sind gut versteckt. Im hinteren Bereich des Messestandes | |
liegen sie, in einer Plastikkiste neben den Gummibärchentüten mit der | |
Aufschrift "In welchem Alter warst du so groß wie ein Gummibärchen?". Die | |
Gummibärchen, erklärt Teresa Kroll, eine der Betreuerinnen des Standes, | |
eigneten sich am besten, um die Besucher zu einem Gespräch zu bewegen. Ein | |
niedrigschwelliger Einstieg, mit einer unverdächtigen Süßigkeit. Kroll ist | |
Mitarbeiterin bei Kaleb, der "Kooperative Arbeit Leben Ehrfürchtig | |
Bewahren", die sich gegen Schwangerschaftsabbrüche einsetzt. Ihr Einsatz | |
heute: Ein Stand auf der Jugendmesse "You" auf dem ehemaligen Flughafen | |
Tempelhof in Berlin. | |
Kaleb ist einer von zahlreichen Verbänden in Deutschland, die Namen tragen | |
wie Durchblick, Bundesverband Lebensrecht oder Aktion Lebensrecht für alle. | |
Ihre Mitglieder tragen weiße Holzkreuze durch Innenstädte, stellen tausende | |
Kinderschuhe in eine Fußgängerzone und schicken auch mal 300.000 | |
Embryomodelle aus Plastik per Post quer durch Deutschland. Ihr Ziel: | |
schwangere Frauen von einer Abtreibung abzubringen und sie zum Austragen | |
des Kindes zu bewegen - notfalls auch mit fragwürdigen Zahlen, | |
zurechtgebogenen Studienergebnissen oder verdrehten Tatsachen. | |
Die Abtreibungsgegner sind dabei keineswegs eine abstruse Bewegung einer | |
Minderheit. Zu einem "Marsch für das Leben" im September schickten unter | |
anderem Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, | |
Bildungsministerin Annette Schavan und der Berliner Erzbischof Georg | |
Sterzinsky Grußworte. Es ging nicht nur um Schwangerschaft, sondern auch um | |
Sterbehilfe und darum, dass Leben grundsätzlich so lange wie möglich | |
erhalten werden solle. Auf der Demonstration dabei: Mitstreiter des Vereins | |
Kaleb. | |
Auf der Jugendmesse geben sich die Mitarbeiterinnen zahmer. Die weißen | |
Kreuze sind - anders als bei den Demonstrationen - im Lager geblieben. | |
Stattdessen werden die jungen Besucher mit Gummibärchen und Buttons | |
gelockt, mit einem Comic und mit kleinen Ansteckern in Form von winzigen | |
silbernen Füßen. Das kommt vor allem bei jungen Frauen an. Doch nach dem | |
Überreichen einer Gummibärchentüte und ein paar erklärenden Sätzen, in | |
denen die Begriffe Geburt, sechste Woche, Gummibärchen und Aufklärung | |
fallen, finden die meisten Gespräche ein jähes Ende. Wer realisiert hat, | |
worum es hier wirklich geht, ist meist ganz schnell wieder weg. | |
"Es ist schon krass, wenn so jungen Leuten eingeimpft werden soll, dass | |
Abtreibungen schlecht sind", sagt Maya, 18 Jahre alt, die mit ihrem Freund | |
und einer Freundin auf der Messe ist. Sie hatte sich in dem Comic | |
festgelesen - der Geschichte einer jungen Frau, die ungewollt schwanger | |
wird -, als eine Kaleb-Mitarbeiterin sie ansprach. "Aufdringlich und | |
nervtötend" sei das gewesen. "Aber man will ja nicht unhöflich sein und | |
einfach weggehen", wirft ihre Freundin Stephanie ein. Daher schwiegen die | |
drei zurückhaltend und regen sich erst auf, als die Kaleb-Mitarbeiterin | |
außer Hörweite ist. "Die stempeln alle Frauen, die ihr Kind nicht bekommen | |
wollen, gleich als schlecht ab", sagt Maya. | |
Die Medizinerin Edith Ockel kritisiert das seit Jahren. Sie hat seinerzeit | |
in der Bundesärztekammer an den Stellungnahmen zum sogenannten | |
Abtreibungsparagrafen 218 mitgearbeitet. "Diese Organisationen wollen mit | |
ihrer Argumentation Frauen als Verbrecher hinstellen und Schuldgefühle | |
hervorrufen", sagt Ockel. Dazu trägt schon die Rhetorik bei: Abtreibung ist | |
Mord, die Frauen also Mörderinnen, manche Gruppen sprechen von "Babycaust". | |
Kaleb-Mitarbeiterin Kroll sagt: "Jeder hat ein Lebensrecht und wir glauben, | |
dass das Leben mit der Befruchtung beginnt." Ockel regt sich auf, wenn sie | |
solche Sätze hört. Ein "fundamentalistischer Bezug auf die befruchtete | |
Eizelle" sei das. "Das Selbstbestimmungsrecht der Frau wird da mit Füßen | |
getreten." | |
Die Lebensrecht-Aktivisten sehen sich selbst als Aufklärer. Als diejenigen, | |
die Frauen vor psychischen Problemen nach einer Abtreibung warnen, als die | |
Stimme Ungeborener, als Instanz, wenn es darum geht, zu beurteilen, wann | |
Leben tatsächlich beginnt. Bei ihrer Argumentation bedienen sie sich | |
bewusst falscher Fakten. Zum Beispiel der Plastikembryo. Die Figur ist kaum | |
so lang wie ein Daumen, etwas dicker und soll einen Embryo in der zehnten | |
Woche zeigen. Schwangerschaftsabbrüche sind in Deutschland, wenn es keinen | |
medizinischen Grund gibt, innerhalb der ersten zwölf Wochen zulässig. Doch | |
das Modell zeigt einen Menschen in Miniformat. Finger und Zehen, Augen und | |
Nase sind zu erkennen, die Beine übereinandergeschlagen. "Diese | |
Plastikpüppchen entsprechen überhaupt nicht der realen Form", sagt Ockel. | |
In der zehnten Woche seien beispielsweise Finger oder Zehen noch gar nicht | |
ausgebildet. | |
Auch mit den Zahlen nehmen es die selbsternannten Lebensschützer nicht | |
immer so genau. Bei der Zahl der Abtreibungen pro Tag wird häufig von | |
tausend gesprochen. Das Statistische Bundesamt zählt aber über die | |
vergangenen Jahre konstant eine niedrige sechsstellige Zahl - 2008 waren es | |
beispielsweise 114.484. Selbst wer nur Werktage berücksichtigt, kommt damit | |
nicht einmal auf 500 Schwangerschaftsabbrüche pro Tag. Der Bundesverband | |
Lebensrecht schiebt es auf die Dunkelziffer - eine Behauptung, die sich | |
weder beweisen noch widerlegen lässt. | |
Die Menschen, die an dem Stand auf der Jugendmesse nicht sofort das Weite | |
suchen, sind vor allem ältere Frauen. Wie eine, die eine unverarbeitete | |
Abtreibung hinter sich hat und das Gespräch als Therapiestunde sieht. | |
Mütter, denen es vor allem um die Schwangerschaft an sich geht, die sie bei | |
ihrer Tochter lieber in ferner als in naher Zukunft sähen. Und ab und an | |
Kinder, die so jung sind, dass sie die Gummibärchtentüte aufreißen und den | |
Inhalt verschlingen, ohne auch nur lesen zu können, was auf der Rückseite | |
steht. | |
8 Oct 2010 | |
## AUTOREN | |
Svenja Bergt | |
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