# taz.de -- Nach einer Abtreibung: Die Richterin im Kopf | |
> Sie hat sich verzählt. Und wird schwanger. "Deine Entscheidung", sagt ihr | |
> Mann. Sie lässt das Kind abtreiben. Nach dem Abbruch fühlt sich Martina | |
> Nierbach schuldig. | |
Bild: "Ich habe gedacht, wenn es weg ist, wird es so wie vorher", meint Martina. | |
Die Urteile kommen wie Hiebe. "Was ich getan habe, war eine Zerstörung". | |
Und "Ich finde mich grausam." Verurteilt wird sie selbst. Martina, die | |
Richterin spricht ein Urteil über Martina, die Verbrecherin. Und die fängt | |
an zu weinen. Das Tribunal in ihrem Kopf tagt schon seit zwei Jahren: Die | |
Richterin ist geübt, die Argumente kennt Martina, die Verurteilte | |
auswendig. "Ich habe den Kreislauf der Natur unterbrochen. Das darf man | |
nicht. Man darf einem anderen sein Leben nicht einfach wegnehmen." | |
Martina Nierbach* hat etwas getan, das jährlich über 100.000 Frauen in | |
Deutschland tun. Sie hat abgetrieben. Aber anders als viele dieser Frauen | |
kann sie sich ihr Tun nicht verzeihen. In ihrem Kopf sitzt diese Richterin. | |
Wenn sie ihre siebenjährige Tochter mit anderen Kindern spielen sieht, | |
denkt sie: Ich habe ihr die Schwester genommen. "Ich bin doch auch gegen | |
die Todesstrafe!", wirft sie sich dann vor. | |
Martina Nierbach ist 42, brünett, mit resolutem, freundlichem Gesicht. Sie | |
hat ein Café vorgeschlagen als neutralen Treffpunkt. Die | |
Wohnungsbaugesellschaft, in der sie arbeitet, liegt um die Ecke. Aber jetzt | |
ist es doch ein komischer Ort, die lächelnden Spanierinnen am Nachbartisch | |
sind irgendwie zu nahe. "Na ja, was solls", sagt sie. | |
Eigentlich sollte ihr Leben gerade so richtig losgehen: Das Haus am | |
Stadtrand war gebaut, die Tochter, ein Wunschkind, in der Schule. Jetzt | |
wollten sie und ihr Mann Paul* sich vom Stress des Hausbaus erholen. Und | |
dann: schwanger. Martina Nierbach hatte die Spirale nicht mehr vertragen, | |
sie hatte sich aufs Tagezählen verlegt. Und verzählt. | |
Paul Nierbach ist beim Bundesgrenzschutz, er macht gerade eine Fortbildung | |
und ist unter Druck. Die Schwangerschaft begeistert ihn nicht. Er hat wenig | |
Zeit, den Gedanken an eine Abtreibung schiebt er weg. Und damit auch seine | |
Frau. "Ich werde dich in jeder deiner Entscheidungen unterstützen", sagt er | |
vorbildlich. "Aber wie er dabei auf dem Sofa ein Stück von mir abrückte!", | |
Martina Nierbachs Stimme wird bitter. "Deine" Entscheidung, nicht "unsere". | |
Martina Nierbach fühlt sich schuldig. Sie hat sich verzählt. Sie hat ein | |
Problem verursacht. Mit dem sie jetzt allein dasteht. Dieser ferngerückte | |
Mann. "Der will mich nicht mit Kind", habe sie gedacht. Und sie selbst? | |
Zuerst hat sie nachgesehen, ob da noch genug Babywäsche ist. Aber ihr wird | |
immer schlecht, wenn sie an das Kind denkt. Ist das ein Zeichen? Sie hat | |
Angst vor diesem Kind. Wenn es zwanzig ist, wird sie schon sechzig sein. | |
Das schaffste nicht noch mal, das ganze Programm, denkt sie. | |
Abtreiben. Sie geht zu Pro Familia und holt sich einen Schein. Dass da eine | |
tiefe Ambivalenz herrscht, entgeht der Beraterin dort. Die hält sie wohl | |
für eine entschlossene Frau und erklärt ihr vor allem das Procedere. | |
"Ich habe gedacht, wenn es weg ist, wird es so wie vorher", meint Martina. | |
Abgetrieben, Problem gelöst. Sie geht allein zur Abtreibung, Paul hat ja | |
Fortbildung. Wieder zu Hause legt sie sich aufs Sofa. "Es war keine | |
Erleichterung. Es war nur das Gefühl, dass alles zu viel ist." Paul kommt | |
nach Haus. Er ist leider sehr erkältet, er muss ins Bett und braucht etwas | |
Heißes zu trinken. "Da wurde mir schon so komisch, als würde etwas völlig | |
falsch laufen." Am Sonntag wollen sie was Schönes machen, ins Grüne fahren. | |
An der Bushaltestelle fängt Martina plötzlich an zu weinen. Ihr Mann guckt | |
betreten weg. Eine Passantin reicht ein Taschentuch. | |
Einige Tage später bei der Arbeit kommt der Zusammenbruch. Martina Nierbach | |
wird krankgeschrieben. Soll eine Therapie machen. Paul soll mit. Stimmt, | |
sagt er dort, ich habe neben mir gestanden, total überfordert. Aber wie er | |
seine weinende Frau unterstützen kann, das weiß er auch nicht. Ist doch | |
weg, das Kind. Kann man nichts mehr machen. "Den Mund hat er die ganze Zeit | |
nicht aufgekriegt", sagt Martina Nierbach heute. Die Ehe sei hinüber, sagt | |
sie, mehr ratlos als entschlossen. "Ich dachte, die Abtreibung ist die | |
Lösung. Dabei hat sie eine Tonne neuer Probleme gebracht." | |
Die Therapeutin, die könnte dem Tribunal in Martinas Kopf vielleicht eine | |
Verteidigerin hinzufügen. Sie redet mit ihr über Schuldgefühle. Schon als | |
Kind hat sie wenig Liebe erfahren, alles falsch gemacht, immer die Schuld | |
bekommen. Blieb allein damit. Jetzt ist alles wieder da. Schuld, | |
Einsamkeit. Und eine strenge Richterin im Kopf, die ihr Urteil wiederholt. | |
"Die Therapie hat irgendwie nicht geholfen", meint Martina. Die | |
Verteidigung wurde einfach nicht gehört. | |
Die Geschichte von Martina Nierbach passt den AbtreibungsgegnerInnen nur zu | |
gut. Sie haben es immer gewusst: Abtreibung ist Mord, und wer ihn verübt, | |
wird seines Lebens nicht mehr froh. Sie haben einen Fachbegriff dafür: | |
Post-Abortion-Syndrom, PAS. Das "Portal zur katholischen Geisteswelt" im | |
Netz etwa zitiert Studien, nach denen "fast jede zweite Frau" nach einer | |
Abtreibung daran erkrankt. | |
Schwere Depressionen suchten 42 Prozent heim, Ängste, Schlafstörungen, | |
Alkoholmissbrauch waren bei vielen zu finden. Martina Nierbach passt ins | |
Bild. Die Frage ist, ob das Bild stimmt. | |
Denn was die Katholiken nicht schreiben: Solche Studien sind nicht sehr | |
aussagekräftig. Die American Psychological Association hat 2008 eine | |
Metastudie erstellt, in der sie die methodischen Probleme vieler Studien | |
benennt. Oft lagen bei den Frauen verschiedene Risikofaktoren für Symptome | |
wie Depressionen vor. Es war kaum möglich zu sagen, ob die Probleme auf die | |
Abtreibung oder anderes wie Gewalterfahrungen in der Kindheit oder die | |
soziale Lage zurückzuführen waren. Wurden Frauen mit ungünstigen | |
Voraussetzungen nicht mitgezählt, ergab sich kaum ein Unterschied im | |
psychischen Wohlbefinden von Frauen mit und ohne Abtreibung. | |
Dennoch stellen auch die AutorInnen dieser Metastudie klar: Gerade Frauen | |
mit einer Vorbelastung könnten unter einer Abtreibung leiden. Besondere | |
Unterstützung für diese Risikogruppe sei nötig. | |
Vorbelastet, das klingt, als müsste man schon einen Stempel abbekommen | |
haben: "Achtung! Depressive Mutter". "Vorsicht! Alkoholkranker Vater - | |
bitte besonders behandeln". So ist die Wirklichkeit nicht. In der | |
Wirklichkeit gibt es Frauen, die ein Trauma aus der Kindheit völlig | |
verdrängt haben. Oder auch Frauen wie Martina Nierbach, die sich immer | |
normal fand - aber eigentlich seit der Kindheit unter chronischem | |
Liebesmangel leidet. Die heute selbst sagt: "Ich hatte keine richtige | |
Verbindung zu meinen Gefühlen." | |
Wie viele Frauen gibt es, denen wie Martina Nierbach als Kind beigebracht | |
wurde, dass sie nicht in Ordnung sind? In deren Kopf auch so eine | |
unerbittliche Richterin agiert, die nicht zulässt, dass man die traurige | |
Entscheidung verarbeitet? | |
Die Beratungsstellen kennen diese Probleme. Pro Familia etwa bietet eine | |
Nachbetreuung an. Allerdings gehen viele Frauen ungern dorthin zurück, wo | |
sie quasi die Lizenz zum Abtreiben erhalten haben: "Erst wollte ich es, und | |
jetzt komme ich an und sage, dass ich Probleme damit habe, das ist doch | |
schräg", meint auch Martina Nierbach. Mit wem aber soll sie sprechen? "Du | |
hast es doch gewollt!", sagt ihre Schwester. Anderen will sie das Ganze | |
lieber überhaupt nicht erzählen. Sie schämt sich. | |
Genau das aber ist das Problem, sagt Maud Spark, Lebensberaterin in Berlin. | |
Sie betreut seit zwölf Jahren Gruppen, in denen der Schwangerschaftsabbruch | |
verarbeitet werden kann. So oft hat sie Frauen erlebt, die unerfindliche | |
Beschwerden haben. Irgendwann während der Sitzungen kommen sie darauf, dass | |
die Schwierigkeiten mit der Abtreibung zu tun haben. Oft ist die lange her. | |
"Aber die Haltung, dass eine fortschrittliche Frau mit einer Abtreibung | |
kein Problem zu haben hat, hat die Gefühle dazu oft lange verdeckt." Das | |
sei ein Erbe des Kampfes, mit der die Frauenbewegung "Mein Bauch gehört | |
mir" forderte und fordern musste, sagt Spark: "In dieser Kampfstimmung ist | |
die andere Seite, die traurige Seite der Abtreibung, in den Hintergrund | |
geraten." | |
Das Dilemma ist nicht lösbar. Nicht, indem man feministisch-forsch darüber | |
hinweggeht. Und noch weniger, indem man Slogans wie "Abtreibung ist Mord" | |
skandiert. Man kann nur hindurchgehen. Und wenn man dabei steckenbleibt, | |
wie Martina Nierbach: Hilfe suchen. | |
"Es ist vielen nicht klar, dass da etwas in ihnen sich verabschieden will, | |
trauern will. Dass da Angst und Wut kommen: Warum musste mir das passieren? | |
Wie in jedem anderen Trauerprozess auch", sagt Maud Spark. Wer diese | |
Gefühle versteht und sie auch anderen zumutet, komme leichter durch diese | |
Phase als jemand, der sie abwehrt und denkt, jetzt müsse doch gefälligst | |
alles in Ordnung sein. | |
Martina Nierbach bereut die Abtreibung. Hätte nicht die Beraterin ihre Not | |
sehen müssen? Hätte nur ihr Mann anders reagiert! Hätte ihre Schwester ihr | |
tief in die Augen geschaut und gesagt: Da stimmt doch was nicht. Es hat | |
niemand. Dass Ambivalenzen kommen, das hätte ihr doch jemand sagen müssen? | |
Dass die nicht unbedingt "ein Zeichen" pro Abtreibung sind. Die Vorwürfe | |
wandern von ihr selbst zu den anderen und zurück. Nur ein Ausweg will sich | |
nicht auftun. | |
Zu Maud Spark ist Martina Nierbach durch einen Zeitungsartikel gekommen. | |
Die Beraterin spricht von Trauer, die erst einmal zugelassen werden will. | |
Davon, sich ein inneres Bild von dem Kind zu machen. Dem man erklärt, warum | |
die Situation damals so war, wie sie war. Dass man sich selbst vergeben | |
kann. Sie klingt nicht wie eine Verteidigerin. Sie klingt wie jemand, der | |
Martina Nierbach endlich aus diesem Gerichtssaal führen will, weil das der | |
falsche Ort für ihren Prozess ist. | |
*Namen geändert | |
6 Mar 2010 | |
## AUTOREN | |
Heide Oestreich | |
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