# taz.de -- Unterschicht in die Mitte gerückt: Dank dir, Hartz IV! | |
> Seit Hartz IV kann jeder Unterschicht werden. Das | |
> "Regelbedarf-Ermittlungsgesetz" wird so auch für die Mittelschicht und | |
> die Medien interessant. | |
Bild: Die Unterschicht gilt seit Hartz IV als relevant. | |
Wenn die Bundesregierung am Mittwoch beschließt, wie viel Geld ein | |
Hartz-IV-Empfänger bekommt, werden sich alle dafür interessieren. | |
Sozialverbände werden sich zu Wort melden, in der "Tagesschau" beklagt sich | |
die Opposition über die niedrigen Regelsätze, die taz bringt eine | |
Schwerpunktseite. Hartz IV bewegt eben die Gemüter. Hartz IV ist relevant. | |
Früher war das anders. Bevor SPD und Grüne die Agenda 2010 durchsetzten, | |
gab es kein Hartz IV. Stattdessen gab es zwei grundsätzlich verschiedene | |
Systeme für Leute, die längere Zeit ohne Arbeit waren. An der Frage, zu | |
welchem dieser Systeme man gehörte, entschied sich der soziale Status und | |
vor allem der monatliche Geldeingang. | |
Wer auf der Sonnenseite der Arbeitslosigkeit gelandet war, bekam | |
Arbeitslosenhilfe. Die Arbeitslosenhilfe gab es lebenslang, und sie betrug | |
53 Prozent des letzten Nettolohns. Mit Kind sogar 57 Prozent. Wer einmal | |
gut verdient hatte, brauchte sich also keine Sorgen mehr zu machen. | |
Natürlich gab es Einschränkungen, man konnte seinen Lebensstandard nicht | |
halten, aber sich zumindest eine Stufe drunter ganz komfortabel einrichten. | |
Viele Aussteiger nahmen das Geld und reisten um die Welt, entdeckten ihr | |
künstlerisches Talent oder schrieben ein Buch. | |
Und dann gab es da noch die Sozialhilfe. Sozialhilfe, das waren die | |
anderen. Die, die ihr gesamtes Leben lang noch nie eine Arbeit hatten. | |
Jedenfalls keine geregelte, so richtig mit Lohnsteuerkarte und | |
Sozialversicherungsbeiträgen. | |
Die Öffentlichkeit interessierte sich nicht für die. Ab und zu erschien mal | |
eine Reportage aus dem Sozialhilfemilieu. Darin ging es um Leute, die nicht | |
genug Geld für die Schulhefte ihrer Kinder hatten, die sich über eine | |
angeblich falsche Berechnung ihres Geldes durch die Sozialämter beklagten | |
und die für eine Mark pro Stunde arbeiten mussten. Das las sich ein | |
bisschen wie aus einem fernen Land. Etwa Bhutan oder Tasmanien. Das Ansehen | |
von Journalisten, die Sozialreportagen schrieben, war in vielen Redaktionen | |
ungefähr so hoch wie das der Leute, die die Tabellen mit dem | |
Fernsehprogramm zusammenstellten. | |
Das hat sich ganz grundlegend geändert. Die Nöte und Sorgen, die | |
Verhältnisse und Ungerechtigkeiten, die Zwänge und Schicksale der | |
Unterschicht werden inzwischen sehr ausführlich von den Medien beleuchtet. | |
Ein Bereich, der früher viel zu wenig betrachtet wurde, erfährt inzwischen | |
die ihm gebührende Aufmerksamkeit. | |
Wir Journalisten würden uns das Verdienst für diesen Wandel ganz gerne | |
selbst anrechnen. Doch der Dank gebührt Hartz IV. Erst Hartz IV hat dafür | |
gesorgt, dass die Unterschicht nicht länger ignoriert wird. Denn durch | |
Hartz IV ist die Unterschicht in die Mitte der Gesellschaft gerückt. | |
Egal, wie lange man gearbeitet hat: Jüngere bekommen jetzt nur noch maximal | |
ein Jahr lang Arbeitslosengeld, Ältere maximal zwei Jahre. Danach kommt | |
Hartz IV, und zwar für alle. Das bedeutet den Umzug in eine kleinere | |
Wohnung mit "angemessener" Miete. Und 359 Euro für den Lebensunterhalt. | |
Hartz IV kann jetzt alle treffen - und nicht mehr nur die anderen. Wer | |
nicht selbst betroffen ist, der merkt doch zumindest, wie im Freundeskreis | |
die Einschläge immer näher kommen. Das hat der dahinkümmernden Bewegung für | |
mehr soziale Rechte zu neuer Stärke verholfen. Und das manifestiert sich | |
längst nicht nur in neuen Sozialdemonstrationen und in der Linkspartei. Es | |
führt vor allem dazu, dass Soziales inzwischen zu den gesellschaftlichen | |
und medialen Großthemen gehört. Die Unterschicht ist inzwischen relevant. | |
Ähnlich wie der Klimawandel - der gilt seit ein paar Jahren auch als | |
relevant, obwohl es die Probleme da ja ebenfalls schon etwas länger gibt. | |
Doch die Unterschicht kann sich jetzt nicht nur endlich der ihr gebührenden | |
Aufmerksamkeit sicher sein. Es zahlt sich auch aus, dass sie nun überall | |
als relevant gilt. Etwa beim Bundesverfassungsgericht. Jahrzehntelang hatte | |
man in Karlsruhe keinerlei Einwände gegen die Sozialhilfesätze. Als das | |
Ding plötzlich einen neuen Namen hatte und anfing, die Mittelschicht zu | |
bedrohen, monierten die Richter die fehlerhafte Berechnung. Die Regierung | |
muss jetzt etwas drauflegen. | |
Zwar soll es nach dem Willen der schwarz-gelben Koalition nur fünf Euro | |
mehr geben. Doch die Sozialbewegung hat inzwischen auch die | |
Sozialdemokraten erfasst. Die gleiche SPD, die damals die ursprünglichen | |
Hartz-IV-Sätze beschlossen hatte, ist jetzt der Ansicht, dass die Erhöhung | |
dieser Sätze um fünf Euro viel zu gering ist. Und weil die schwarz-gelbe | |
Koalition im Bundesrat keine Mehrheit hat, wird man sich am Ende | |
wahrscheinlich auf eine etwas großzügigere Anhebung einigen. Und wieder | |
werden alle darüber berichten. | |
Früher hätte es das nicht gegeben. | |
15 Oct 2010 | |
## AUTOREN | |
Sebastian Heiser | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Geld für Kinder getrennter Eltern: Mehr Selbstbehalt statt mehr Unterhalt | |
Nach der neuen Düsseldorfer Tabelle bekommen Kinder von getrennt lebenden | |
Eltern ab dem 1. Januar so viel wie bisher. Wer zahlen muss, dem bleiben 50 | |
Euro mehr. | |
Geringste Arbeitslosenzahl seit 18 Jahren: An der magischen Grenze | |
Die Arbeitslosenzahlen sinken, weil der Export boomt, Alte immer mehr | |
Betreuung brauchen und Erwerbslose auch unattraktive Jobs annehmen. Doch es | |
gibt eine Kehrseite. | |
Ausbildungspakt erneuert: Entspannung für Azubis | |
Wirtschaft und Regierung haben den Ausbildungspakt neu aufgelegt, 60.000 | |
neue Ausbildungsplätze sollen entstehen. Heftige Kritik äußerte der DGB. | |
Mannheimer Gegenmodell zur Bildungskarte: Die Kommune kümmert sich | |
Mannheim hält wenig von der Bildungschipkarte. Die Stadt unterstützt sozial | |
benachteiligte Kinder anders, etwa mit 10.000 zusätzlichen Schulstunden an | |
Brennpunktschulen. | |
Kommentar Bildungschipkarte: Ab ins Arbeitsjugendamt? | |
Die Pläne zur Umsetzung des Bildungspakets sind eine Kopfgeburt, es drohen | |
bürokratische Doppelstrukturen und Ineffizienz. Die BA ist zur Recht sauer | |
auf von der Leyen. | |
Neuregelung von Hartz IV: Arbeitsagentur warnt vor Überlastung | |
Durch das Bildungspaket würden die Jobcenter an ihre Grenzen stoßen, warnt | |
die Bundesagentur für Arbeit. Arbeitsministern Ursula von der Leyen (CDU) | |
kündigt Korrekturen an. | |
Erhöhung der Zuverdienstgrenzen: Mehr übrig für Hartz-IV-Empfänger | |
Die Koalition hat sich auf höhere Zuverdienstgrenzen für Bezieher von | |
Arbeitslosengeld geeinigt. Nur eine kleine Gruppe profitiert davon. | |
Wirtschaftsexperten sind kritisch. |