# taz.de -- Wasserwerfer-Einsatz der Polizei: Auge um Auge | |
> Die Verletzungsgefahr durch Wasserwerfer ist enorm hoch. Das ist den | |
> Behörden auch seit Jahrzehnten bekannt. Doch gelernt haben sie nichts, | |
> wie der Fall Dietrich Wagner beweist. | |
Bild: Unter Beschuss: Demonstranten im Stuttgarter Schlossgarten am 30.9.2010. | |
Als die Wasserwerfer anrückten, saß der Jurastudent mit anderen | |
Demonstranten auf der Straße, den Rücken zu den Einsatzfahrzeugen. "Es war | |
eine absolut friedliche, lockere Stimmung", erzählt Reinhard Engel. "Wir | |
dachten, die Polizei würde uns einfach wegtragen." Da hatte er sich geirrt. | |
Die Beamten warfen die Wasserwerfer an, spritzten mit Hochdruck in die | |
Menge. | |
Engel wollte die Lage peilen, er drehte seinen Kopf. Da traf ihn ein | |
Wasserstrahl mit Wucht ins Gesicht. Sein linkes Auge blutete, er konnte | |
nichts mehr sehen. Im Krankenhaus diagnostizierten die Ärzte eine Lähmung | |
der linken Pupille und ein Loch in der Netzhaut. | |
Als Reinhard Engel unlängst in den Nachrichten das Bild eines Demonstranten | |
sah, dem nach einem Wasserwerfereinsatz im Stuttgarter Schlossgarten das | |
Blut aus den Augen rann, wunderte er sich. "Ich hätte nicht gedacht, dass | |
Wasserwerfer weiter so knochenbrecherisch eingesetzt werden", sagt er. "Die | |
wissen doch eigentlich längst, dass man die Dinger nicht mit so hohem Druck | |
fahren darf." Immerhin ist es 26 Jahre her, dass Engel bei einer | |
Sitzblockade gegen die Nato-Nachrüstung vor einer Kaserne in Niedersachsen | |
verletzt wurde. Der Jurastudent von einst betreibt heute eine Kanzlei in | |
Bremen. | |
Bernhard Docke, inzwischen ein bundesweit renommierter Rechtsanwalt, | |
verklagte damals im Namen Engels und anderer schwer verletzter | |
Demonstranten die Polizei. Er sagt: "Das ist schon ein bisschen | |
heuchlerisch, wenn man heute fragt: Wie konnte das passieren?" Schon 1984 | |
warnte er im Stern: Wasserwerfer seien zwar rechtlich nur als "Hilfsmittel | |
körperlicher Gewalt" eingestuft, könnten aber bei vollem Wasserdruck genau | |
wie eine "Geschosswaffe" schwere Verletzungen verursachen. Heute sagt der | |
Jurist: Leider habe es wohl keinen "Lerneffekt" gegeben. | |
Dietrich Wagner ist quasi blind. Gut sechs Wochen ist es her, dass sein | |
Foto Aufsehen erregte. Es zeigt den pensionierten Ingenieur mit | |
blutüberströmtem Gesicht und bläulich aufgeschwollenen Augen. Das Bild ist | |
zum Symbol für den Umgang der Polizei mit renitenten Gegnern des | |
Bahnhofsprojekts S 21 geworden. Wagner wird auf einem Auge nie wieder sehen | |
können. Das andere Auge sei so schwer geschädigt, dass der 66-Jährige damit | |
nur noch schemenhaft sehen könne, sagt Rechtsanwalt Frank-Ulrich Mann. | |
"Das muss man sich mal vorstellen: Jemand geht auf eine Demonstration und | |
kommt blind nach Hause." Der Anwalt vertritt noch drei andere | |
Demonstranten, die am 30. September im Schlossgarten von Wasserwerfern ins | |
Gesicht getroffen wurden. Alexander S. erlitt eine Netzhautablösung und | |
einen Netzhautriss, Chris H. wurde wegen eines Bruchs des Augenhöhlenbodens | |
und eines Bindehautrisses operiert, Daniel K. wegen einer schweren | |
Augapfelprellung. Alle seien unbescholtene Bürger, sagt der Anwalt. | |
Er beschuldigt die Polizei, sie habe "eklatant gegen Dienstvorschriften | |
beim Einsatz von Wasserwerfern verstoßen". Der Verdacht liege nahe, dass | |
die Wasserwerfer "gezielt" und "mit voller Stärke" auf die Köpfe der | |
Demonstranten "geschossen" hätten. "Wir haben einen Zeugen, der gehört hat, | |
dass der Wasserdruck auf 20 bar hochgesetzt werden soll." | |
Allerdings leitete die Stuttgarter Staatsanwaltschaft auch ein | |
Ermittlungsverfahren "wegen des Werfens eines Gegenstandes" auf den schwer | |
verletzten Dietrich Wagner ein. "Wir prüfen aber noch, ob ein strafbares | |
Verhalten vorliegt", sagt die Sprecherin der Behörde. | |
Angesichts der schweren Vorwürfe wegen ihres Einsatzes stellte die | |
Stuttgarter Polizei einige Ausschnitte aus Polizeivideos ins Internet, die | |
das Gewaltpotenzial der Demonstranten belegen sollen. Eine Sequenz zeigt, | |
wie Dietrich Wagner einen kleinen Gegenstand in Richtung Polizei wirft. | |
Mehrfach drängt der 66-Jährige sich vor den Wasserwerfer und wedelt mit | |
erhobenen Armen. Wagner notierte in einem Gedächtnisprotokoll, er habe die | |
Polizei so auffordern wollen, den Wassereinsatz zu stoppen. | |
Welche Verletzungen ein Wasserwerfer anrichten kann, ist den | |
Sicherheitsbehörden seit Jahrzehnten bekannt. In einem vertraulichen | |
Seminarbericht für die Polizeiführungsakademie aus dem Jahr 1987, der der | |
taz vorliegt, erklärt ein Beamter: Sogar Polizisten, die sich als | |
Versuchspersonen vor die neuen Wasserwerfer stellten, hätten bei Tests | |
"anfangs Blutergüsse und Prellungen" erlitten. Er warnt: "Bei Wassereinsatz | |
im Bereich ca. 10 m mit vollem Druck sind Körperverletzungen durch direkte | |
Strahlwirkung zu erwarten […]." | |
Im Archiv des Polizeitechnischen Instituts in Münster liegt zudem ein | |
Gutachten zur Verletzungsgefahr durch Wasserwerfer. Lesen darf man es | |
nicht. Eine taz-Anfrage lehnte das zuständige Büro der | |
Innenministerkonferenz ab. Begründung: Das Gutachten sei zwar nicht als | |
geheim eingestuft, aber auch nicht explizit freigegeben. | |
Auch hochrangige Polizisten plädieren inzwischen dafür, Wasserwerfer | |
zurückhaltend einzusetzen. So schrieb ein Berliner Polizeidirektor 2007 in | |
einer Analyse über Blockaden von Neonaziaufmärschen: "Gegen überwiegend | |
friedliche Blockadeteilnehmer ist der Einsatz des Wasserwerfers | |
unverhältnismäßig." Er komme nur infrage, wenn die Gruppe der Blockierer | |
"ganz überwiegend aus Gewalttätern" bestehe und zudem "mit Steinen und | |
Flaschen" nach den Einsatzkräften werfe. | |
Bereits in den 80er Jahren nach den ersten schweren Verletzungen von | |
Demonstranten verschärften die Behörden die Polizeidienstvorschrift 122 zum | |
Einsatz von Wasserwerfern. Zwar darf die Polizei weiterhin "Wasserstöße" | |
auf "Störer" oder "Gewalttäter" abgeben, doch ausdrücklich wird gewarnt: | |
"Hierbei ist darauf zu achten, dass Köpfe nicht getroffen werden." | |
Und trotzdem gibt es immer wieder Kopftreffer. Steffen B., ein | |
Heilpraktiker aus Potsdam, wurde während einer Protestaktion gegen den | |
G-8-Gipfel in Heiligendamm schwer verletzt. Der Strahl eines Wasserwerfers | |
zertrümmerte sein linkes Jochbein, das Auge rutschte ab, die Netzhaut wurde | |
zerstört. Der 39-jährige Vater zweier Kinder ist seither halb blind. Die | |
Polizei hatte ihn keiner Gewalttat bezichtigt. | |
Steffen B. selbst nennt sein Verhalten bei der Demonstration, als er sich | |
auf wenige Meter an einen Wasserwerfer heranwagte, heute "neugierig oder | |
naiv". Er habe es spannend gefunden, "sich von einem Wasserwerfer nicht | |
einschüchtern zu lassen". Wie gefährlich der Wasserstrahl sei, habe er | |
nicht geahnt. | |
Jene Beamten, die Steffen B. damals mit dem Wasserwerfer im Gesicht | |
verletzten, mussten sich nie vor Gericht verantworten. Das | |
Ermittlungsverfahren wurde eingestellt. Im Einstellungsbeschluss warf der | |
Generalstaatsanwalt dem Demonstranten "selbstgefährdendes Verhalten" vor. | |
Steffen B. habe an einer verbotenen Versammlung teilgenommen, zu der neben | |
vielen friedlichen Demonstranten auch einige gewaltbereite Störer gekommen | |
seien. Er habe die Appelle der Polizei ignoriert, das Gelände zu räumen. | |
Dazu, dass Steffen B. vom Strahl des Wasserwerfer ins Gesicht getroffen | |
wurde, erklärte der Generalstaatsanwalt lapidar: "In gewissen | |
Lebensbereichen lässt sich die Gefährdung anderer nicht völlig verbieten, | |
obwohl sie voraussehbar und vermeidbar wäre." | |
Steffen B. hofft, dass Richter ihm wenigstens noch ein Schmerzensgeld | |
zusprechen. "Die Polizei muss doch wissen, dass sie für so was belangt | |
werden kann", sagt er. "Vielleicht gibt es dann die Chance, dass sich etwas | |
ändert beim Einsatz der Wasserwerfer." Der erste Verhandlungstag vor dem | |
Rostocker Landgericht Anfang November begann für den Potsdamer allerdings | |
mit einer Überraschung. Die Gegenseite verlangt nun, der Kläger solle | |
beweisen, dass er überhaupt von einem Wasserwerfer verletzt worden sei. | |
"Oberdreist", findet Steffen B. das. Schließlich habe die Polizei bis heute | |
kein Video von dem umstrittenen Wasserwerfereinsatz vorgelegt. Steffen B. | |
weiß nicht einmal, ob der Wasserwerfer mit einer Videokamera ausgerüstet | |
war. | |
Wenn künftig Wasserwerfer mit Hochdruck auf Demonstranten schießen, wird es | |
zumindest daran keinen Zweifel mehr geben. Der Bund hat gerade neue | |
Hochleistungswasserwerfer bestellt, die nach und nach die bis zu 27 Jahre | |
alten Oldtimer ersetzen werden - Stückpreis gut 900.000 Euro. Das erste | |
Exemplar soll noch in diesem Jahr ausgeliefert werden. Das neue, fast zehn | |
Meter lange Gefährt verfügt nicht nur über drei Kameras und eine | |
Kopierstation an Bord, die am Ende des Einsatzes "gerichtsverwertbare Daten | |
auf DVD" auswirft, wie der zuständige Projektleiter von der Bundespolizei | |
in einem Fachbeitrag über die Potenziale des "WaWe 10.000" lobte. | |
Auch für das Wohl der Beamten an Bord wurde demnach einiges getan: Das neue | |
Fahrzeug hat eine "ergonomisch gestaltete und klimatisierte sowie | |
schutzbelüftete Mannschaftskabine" mit Schutzverglasung, Durchstichschutz | |
und Notausstiegen. Das gepanzerte Dach soll sogar den Bewurf mit einer 30 | |
Kilo schweren Steinplatte aus zwölf Meter Höhe aushalten. Das Risiko | |
schwerer Verletzungen für Demonstranten wird in dem vier DIN-A4-Seiten | |
langen Bericht allerdings mit keinem Wort erwähnt. | |
Welche Rolle spielte das Thema bei der Entwicklung des neuen Fahrzeugs? Ein | |
Interview dazu lehnt die Bundespolizei ab. Auch Achim Friedl, als | |
Referatsleiter im Bundesinnenministerium zuständig für die Anschaffung der | |
neuen Hightechfahrzeuge, steht für ein Gespräch nicht zu Verfügung. Obwohl | |
Friedl vor einem Jahr öffentlich den Prototyp des neuen Wasserwerfers | |
präsentierte und laut Presseberichten über den Koloss schwärmte: "Der Neue | |
hat eben ein ganz anderes Auftreten als der Alte." | |
Nun sendet das Ministerium statt konkreter Antworten eine schriftliche | |
Mitteilung. Darin heißt es: "Die Strahlwirkung ist beim neuen Wasserwerfer | |
nicht höher als beim alten Wasserwerfer." Zudem könne dank neuer | |
Hohlstrahlrohre das Wasser besser dosiert werden. Die Mitteilung endet mit | |
einem verblüffenden Satz: "Der Umgang mit dem Wasserwerfer wird so | |
trainiert, dass die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt und Verletzungen | |
vermieden werden." | |
21 Nov 2010 | |
## AUTOREN | |
Astrid Geisler | |
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