# taz.de -- Vorbeugehaft bei Heiligendamm-Protesten: Europa rettet Demonstratio… | |
> Der EGMR rügt die Bundesrepublik, weil sie bei den G8-Protesten 2007 die | |
> Menschenrechtskonventionen missachtete. Zwei Aktivisten mussten zu | |
> Unrecht fünf Tage in Vorbeugehaft. | |
Bild: Öffentliche Diskussion eingeschränkt: Die Polizei und Protestierende in… | |
BERLIN taz | Das Urteil ist deutlich und einstimmig gefallen: Weil deutsche | |
Behörden bei den Protesten gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm zu hart | |
gegen Demonstranten vorgingen, hat der Europäische Gerichtshof für | |
Menschenrechte (EGMR) am Donnerstag die Bundesrepublik Deutschland gerügt. | |
Zwei Männer hatten in Straßburg geklagt, nachdem sie zu Beginn der Proteste | |
im Juni 2007 über fünf Tage lang in Vorbeugehaft genommen worden waren. | |
Der Grund: Weil sie zwei Transparente mit der Aufschrift „freedom for all | |
prisoners“ („Freiheit für alle Gefangenen“) und „free all now“ („B… | |
alle jetzt“) bei sich trugen, sah die Polizei sie als potenzielle | |
Straftäter an - und buchtete sie vorsorglich ein. Erst nach Abschluss der | |
Proteste ließ sie sie wieder laufen. Das hielt das EGMR nun für einen | |
Verstoß gegen die Europäischen Menschenrechtskonventionen. | |
Das Gericht sieht in der Festnahme der beiden Männer einen Verstoß gegen | |
das Menschenrecht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5) sowie gegen die | |
Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 11). Im am Donnerstag | |
veröffentlichten Urteil heißt es, die Festnahme der beiden Studenten sei | |
rechtswidrig gewesen: „Durch das Tragen der Parolen hatten sie | |
beabsichtigt, das Sicherheitsmanagement der Polizei, insbesondere die hohe | |
Zahl von Festnahmen zu kritisieren. Ein mehrtägiger Freiheitsentzug für den | |
Versuch, diese Transparente zu tragen, hatte eine abschreckende Wirkung für | |
die Äußerung einer solchen Meinung und schränkte die öffentliche Diskussion | |
zu diesem Thema ein.“ | |
## Konsequenzen fürs polizeiliches Handeln | |
Zuvor hatten deutsche Gerichte in allen Instanzen die vorbeugende | |
Ingewahrsamnahme mit unterschiedlichen Begründungen stets für rechtens | |
erklärt: So sei die Aufschrift des Transparents als Aufruf zur | |
Gefangenenbefreiung zu werten gewesen. Auch habe der Verdacht bestanden, | |
die beiden Männer hätten selbst eine Gefangenenbefreiung geplant haben | |
können. Unsinn – wie der EGMR nun feststellte. Die beiden Männer hätten | |
keinerlei Werkzeug bei sich geführt oder Hinweise auf eine tatsächlich | |
geplante Gefangenenbefreiung gegeben. | |
Die Anwältin der Kläger, Anna Luczak, sagte am Donnerstag: „Die deutschen | |
Behörden – Polizei und Justiz – müssen nach diesem Urteil ihre Praxis der | |
Freiheitsentziehung auf den Prüfstand stellen. Solange keine konkrete zu | |
erwartende und zu ahndende Tat oder ein Pflichtverstoß zu erkennen ist, | |
darf das Freiheitsrecht nicht beschränkt werden.“ | |
Sven Schwabe, einer der beiden Kläger, sagte der taz: „Es ist schon | |
seltsam, dass deutsche Gerichte, denen die Sache insgesamt sieben Mal zur | |
Entscheidung vorlag, die offensichtliche Rechtswidrigkeit nicht gesehen | |
haben.“ Er erwarte, dass das Urteil Konsequenzen für das polizeiliche | |
Handeln bei Großprotesten wie dem Castoreinsatz oder den | |
Anti-Neonazi-Demonstrationen in Dresden hätten. Gegen das Urteil kann die | |
Bundesregierung noch Rechtsmittel einlegen. | |
1 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Martin Kaul | |
## TAGS | |
G7 | |
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