| # taz.de -- Urteil zum „Unterbindungsgewahrsam“: Präventiv einsperren ist … | |
| > Darf die Polizei Menschen vorbeugend in Gewahrsam nehmen? Das | |
| > Verwaltungsgericht Hannover sagt: Ja. Der Europäische Gerichtshof für | |
| > Menschenrechte sieht das anders. | |
| Bild: Einfach alle wegsperren: G 8-Proteste in Heiligendamm. | |
| HAMBURG taz | Formell geht es in dem Verfahren um 25 Euro Gebühr für einen | |
| kurzen Aufenthalt in einer Arrestzelle, über die das Verwaltungsgericht | |
| Hannover zu entscheiden hatte. Materiell geht es jedoch um | |
| Freiheitsberaubung und ob der „Unterbindungsgewahrsam“ in den | |
| bundesdeutschen Polizeigesetzen gegen die EU-Menschenrechtskonvention | |
| verstößt. | |
| Trotzdem verurteilte die Kammer 10 des Verwaltungsgerichts (VG) den | |
| 18-jährigen Fußballfan Kai Müller* zur Zahlung und stemmte sich somit gegen | |
| den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). | |
| „Aus systematischen Gründen hält die Kammer die Einschätzung des | |
| Gerichtshofs für verfehlt“, sagte der Vorsitzende Richter Walter Reccius | |
| zur Begründung. Daher fühle sich seine Kammer nicht an die eigentlich | |
| bindende Rechtsauffassung des europäischen Gerichts gebunden. | |
| Zum Sachverhalt: Am 5. Februar 2011 war es an der hannöverschen Fankneipe | |
| „Schateke“ vor dem Bundesligaspiel Hannover 96 gegen VfL Wolfsburg zu | |
| Krawallen gekommen, die von den „Ultras“ – radikalen Fans – beider Vere… | |
| ausgelöst worden waren. | |
| ## 25 Euro für den Verhinderungsgewahrsam | |
| Kai Müller wurde zusammen mit 17 anderen Leuten von der Polizei | |
| aufgegriffen und bis nach dem Spiel in den „Verhinderungsgewahrsam“ | |
| genommen, „um möglichen künftigen Straftaten vorzubeugen“. Danach sollte … | |
| 25 Euro für den Arrest bezahlen und landete in der Polizei-Datei | |
| „Gewalttäter Sport“. | |
| Müller klagte dagegen. Sein Anwalt Andreas Hüttl legte im VG-Verfahren ein | |
| Urteil des EGMR aus Straßburg vom 1. Dezember 2011 vor. Dieses bezog sich | |
| auf die Demonstranten beim G8 Gipfel, die sechs Tage lang in | |
| Unterbindungshaft genommen worden waren. | |
| Der EGMR verurteilte den Freiheitsentzug schon wegen der Dauer als | |
| unverhältnismäßig, führte jedoch in der Urteilsbegründung aus, dass er ganz | |
| grundsätzlich diese Vorschriften in den deutschen Polizeigesetzen mit der | |
| Menschenrechtskonvention für unvereinbar halte. | |
| Nach Auffassung des EGMR ist ein Präventivgewahrsam außerhalb eines | |
| Strafverfahrens unzulässig. Auf der Basis dieser Straßburger Entscheidung | |
| hob das Landgericht Rostock am 19. April diesen Jahres einen polizeilichen | |
| Unterbindungsgewahrsam auf, den das dortige Amtsgericht zuvor gebilligt | |
| hatte. | |
| ## In der Verhandlung hatte das Gericht noch Zweifel | |
| Während auch das VG Hannover in der mündlichen Verhandlung noch erhebliche | |
| Zweifel an der Rechtmäßigkeit der polizeilichen Praxis der Ingewahrsamnahme | |
| äußerte, kam bei der Urteilsverkündung die Kehrtwende. | |
| „Die Auseinandersetzungen hatten die Qualität eines Landfriedensbruchs, | |
| weitere Ausschreitungen waren unmittelbar zu befürchten“, sagte Richter | |
| Reccius. | |
| Anders als der EGMR hat anklingen lassen, ist der Verhinderungsgewahrsam | |
| nach Auffassung der Kammer nicht auf den Bereich der Strafverfolgung | |
| beschränkt. Straftaten zu verhindern sei originäre Aufgabe der Polizei und | |
| nicht Teil der Strafverfolgung. Da sich die Kammer ihrer Rechtsauffassung | |
| wohl selbst nicht ganz sicher ist, ließ sie ausdrücklich eine Berufung zu. | |
| „Das ist schon eine merkwürdige Entscheidung“, kommentiert Anwalt Andreas | |
| Hüttl die Rolle rückwärts des Gerichts. Über der ganzen Urteilsbegründung | |
| der als polizeifreundlich bekannten Kammer habe die Frage geschwebt: „Was | |
| soll die Polizei denn sonst machen“, sagt der Strafverteidiger. „Man kann | |
| aber nicht rechtswidrige Zustände aufrechterhalten, weil man nicht weiß, | |
| was man sonst machen soll.“ | |
| ## Die formelle Rüge aus Straßburg fehlt | |
| VG-Sprecherin Antje Niewisch-Lennartz verteidigt ihre Kollegen. Ein Gericht | |
| sei nicht an Entscheidungen übergeordneter Instanzen – außer an das | |
| Bundesverfassungsgericht – gebunden. Bislang habe der EGMR die deutsche | |
| Praxis formell nicht gerügt. „Dann muss sich der Menschenrecht-Gerichtshof | |
| aufraffen und das beanstanden“, sagt Niewisch-Lennartz. | |
| Dazu kommt es vielleicht ja bald. Denn der Göttinger Anwalt Sven Adam hat | |
| drei Klagen gegen Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg beim | |
| Bundesverfassungsgericht eingereicht, die in Zusammenhang mit | |
| Freiheitsentziehungen bei den Castor-Transporten stehen. Adam prophezeit: | |
| „Da wird es noch erheblichen Streit zwischen dem Verfassungsgericht und dem | |
| Europäischen Gerichtshof geben.“ | |
| *Name geändert | |
| 22 Jul 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Kai von Appen | |
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