# taz.de -- Frankreichs Intellektuelle und Tunesien: Stumm und peinlich | |
> 600.000 Tunesier leben in Frankreich, darunter viele Oppositionelle im | |
> Exil. Doch die Intellektuellen der einstigen Kolonialmacht haben die | |
> tunesische Revolution schlicht verpasst. | |
Bild: Immerhin: Demonstration gegen Ben Ali am 11. Januar in Paris (aufgenommen… | |
PARIS taz | Wie andere Oppositionelle ist der [1][Politiker und | |
Schriftsteller Moncef Marzouki] nach langem Exil in Frankreich voller | |
Hoffnung nach Tunesien zurückgekehrt. Lange haben sie alle auf diesen Tag | |
gewartet. Gemeinsam war ihnen, dass sie wegen ihrer Ideen und Prinzipien | |
aus Tunesien flüchten mussten oder weil sie den Herrscher Ben Ali durch | |
Mangel an Unterwürfigkeit verärgert hatten. | |
Aufgrund der historischen Beziehungen und der gemeinsamen Sprache war es | |
für diese Tunesier fast natürlich, Frankreich als Exil zu wählen. Das galt | |
erst recht für Geisteswissenschaftler, Schriftsteller und die Theater- und | |
Filmschaffenden, für die Paris die kulturelle Metropole darstellte. | |
Als Wiege der Menschenrechtserklärung bot sich Frankreich gerade jenen als | |
Exil an, die wegen ihres Kampfs für die Freiheit und die Grundrechte ihr | |
Land verlassen mussten. Man ließ sie dort dann auch weitgehend gewähren, | |
schreiben, produzieren und agitieren – solange dies nicht die | |
ausgezeichneten Beziehungen Frankreichs zum Regime von Ben Ali stören | |
konnte. Denn die frühere Kolonialmacht hielt eine wohlwollend schützende | |
Hand über das ehemalige Protektorat und den aus Pariser | |
Regierungsperspektive stets entgegenkommenden Partner Ben Ali. | |
Die besonders herzlichen Begegnungen der französischen Staats- und | |
Regierungschefs (von links und rechts) mit dem verhassten Herrscher in | |
Tunis mit ansehen zu müssen, nahmen die Exiltunesier, die in Frankreich | |
keine geschlossene Gemeinschaft bilden, als Preis für ihre Aufnahme in | |
Kauf. Im Übrigen scheinen die meisten LeserInnen der französischen Presse | |
erst jetzt zu entdecken, wie hässlich diktatorisch und korrupt die Realität | |
hinter der schönen Fassade des Urlaubskatalogs war. | |
Musterschüler Ben Ali | |
Moncef Marzouki schilderte in Le Monde vor seiner Rückkehr nach Tunis in | |
einem Manifest gegen "Frankreichs gefällige Nachsicht" noch einmal, wie die | |
Öffentlichkeit mit einem propagandistisch verfälschten Image getäuscht | |
wurde, indem man den diktatorischen Charakter des Regimes verharmloste und | |
Ben Ali zum Musterschüler des Westens im Maghreb und einem Bollwerk gegen | |
den Islamismus erklärte. | |
In einem anderen kritischen Beitrag bezeichnet der marokkanische | |
Schriftsteller Abdellah Taïa die tunesische Revolution nicht nur als | |
"unerwartetes Wunder", sondern auch als Chance für ein kulturelles Erwachen | |
des arabischen Volks aus einem neokolonialistischen Albtraum: "Man hat | |
alles getan, damit der Araber sich nicht kultiviert. Sogar die arabischen | |
Intellektuellen haben schließlich dieses arabische Volk aufgegeben. | |
Abgesehen von einigen mutigen Menschenrechtsaktivisten gibt es nur wenige, | |
die die Alarmglocken läuteten. Heute noch diskutieren diese Intellektuellen | |
lieber über Proust oder Sartre, de Beauvoir oder Camus, als den Arabern zu | |
helfen, ihr Bild von sich selber zu ändern." | |
In Frankreich leben rund 600.000 Tunesier, die die Ereignisse jenseits des | |
Mittelmeers stündlich verfolgen. Die meisten von ihnen hätten hier ihre | |
Existenz aufgebaut und würden nicht an eine Rückkehr denken, meint in Paris | |
Tarek Ben Hiba, der Vorsitzende der Exilvereinigung FTCR (Fédération des | |
Tunisiens pour une Citoyenneté des deux Rives). Gemeinsam ist fast allen | |
die Enttäuschung über die immer peinlicher werdende Haltung des offiziellen | |
Frankreich während des Volksaufstands. | |
"Das war eine Schande vom Anfang bis zum Ende. Alle (französischen) | |
Regierungen waren nachsichtig mit der Diktatur und den | |
Menschenrechtsverletzungen", erklärte Universitätsprofessor Chérif Ferjani | |
von der FTCR. Geradezu grotesk war das Angebot von Außenministerin Michèle | |
Alliot-Marie, dem bereits fallenden Regime "im Rahmen der bestehenden | |
Kooperationsabkommen" mit dem "in aller Welt bekannten französischen | |
Know-how in der Regelung von Sicherheitsproblemen" bei den | |
Ordnungseinsätzen zu helfen, und dann ihr Versuch, diese unhaltbare | |
Position nachträglich aus der Welt zu reden. | |
Unverständlich war auch das Schweigen der meisten französischen | |
Intellektuellen. Ben Ali und sein Clan hatten Tunis schon verlassen, als | |
die Presse einen Appell von sieben Philosophen, Soziologen und | |
Hochschulprofessoren (unter ihnen Étienne Balibar, Robert Castel und Pierre | |
Rosanvallon) veröffentlichte, die gegen das "ohrenbetäubende Schweigen" von | |
Paris protestierten. | |
Wo waren die Finkielkrauts? | |
Die Zeitschrift Marianne sprach aber aus, was manche dachten: Wo waren | |
denn, als die Tunesier für ihre Freiheit auf die Barrikaden gingen, die | |
Intellektuellen, die Bernard-Henri Lévys, André Glucksmanns, Alain | |
Finkielkrauts oder auch ein Bernard Kouchner, geblieben, die sonst immer | |
wie Pflichtverteidiger der Menschenrechte in Iran, Tibet oder Russland | |
auftreten? | |
"Unverzeihlich" nannte der in Frankreich publizierende tunesische | |
Schriftsteller Abdelwahab Meddeb das an Gleichgültigkeit grenzende | |
"Schweigen der Intellektuellen und der Politiker". Vielleicht wurden sie | |
vom Tempo der Entwicklung überholt, das er als eines der hervorstechenden | |
Elemente der "Jasminrevolution" bezeichnet und in dem er eine "neue | |
Ausdrucksform der Zeit in der Geschichte" analysiert: "Diese Revolution | |
wurde im Wesentlichen über das Medium Internet von der digitalen | |
Blog-Generation gemacht. Und ihr blitzartiger Verlauf entspricht der | |
Geschwindigkeit und der Augenblicklichkeit, die dieses Mittel ermöglicht." | |
Meddeb meint auch, es brauche anschauliche Vergleiche. So beschreibt er den | |
Märtyrer Mohamed Bouazizi für das europäische Verständnis als eine | |
christliche "Erlöserfigur", er sieht in ihm, analog zum "Prager Frühling", | |
einen Jan Palach. Der Revolution in Tunesien fehle allerdings noch ein Lech | |
Walesa oder ein Václav Havel, räumt er ein. | |
20 Jan 2011 | |
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## AUTOREN | |
Rudolf Balmer | |
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Philosophie | |
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