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# taz.de -- Die neue Foodbürger-Bewegung: Power to the Bauer
> An der Demo "Wir haben es satt" werden mindestens 5000 Menschen
> teilnehmen. Der Dioxin-Skandal hat mobilisiert. Für einen Systemwechsel
> in der Agrarpolitik braucht es aber mehr.
Bild: Wind, Sonne – und gutes Essen.
Gentechnikgegner sind beim Thema Nahrungserzeugung schon lange dabei,
relativ neu die Bürgerinitiativen gegen Massentierhaltung. Auch die
Diskussion um Essens-Ethik hat mit dem Buch „Tiere Essen“ von Jonathan
Safran Foer und mit dem Vegan-Selbstversuch der Schriftstellerin Karen Duve
neues Feuer erhalten.
Und der Dioxin-Skandal. „Der Zeitpunkt ist optimal“, sagt Bewegungsforscher
Sebastian Haunss von der Universität Konstanz. Dort, in der südwestlichsten
Ecke Deutschlands, sei allerdings von der Agrardemo „überhaupt nichts“ zu
bemerken. Keine Plakate, das Thema nicht im Gespräch. Aber was die
Mobilisierungsfähigkeit für das Thema angeht, ist er pessimistisch.
Zwar seien Bauernproteste "traditionell spektakulär". Da werde immer mal
wieder Mist oder Milch auf die Straße gekippt oder auch mal Straßen
blockiert. Doch für eine Massenmobilisierung, zum Beispiel zur [1][Demo
"Wir haben es satt"], bräuchte es mehr: "Die Verbände sind präsent. Doch
eine Breitenmobilisierung, wie sie für eine solche Massendemo notwendig
wäre, war im Bereich Verbraucherschutz noch nie zu sehen."
Verbraucherproteste hätten keine lange Halbwertszeit. Und um wirklich
erfolgreich sein zu können, bräuchte eine Bewegung auch eine wirkliche
Basis.
Wenn man Christoph Fischer von der 2006 gegründeten Initiative [2]["Zivil
Courage"] glaubt, dann gibt es diese Basis. Nämlich im obrigkeitskritischen
Bayern. „Wir haben keine Hierarchie, wir sind kein Verein, wir haben keine
Kasse“, sagt Fischer. Zivil Courage setzt sich hauptsächlich gegen
Agro-Gentechnik ein, mit Filmen, Vorträgen, und „Bewusstseinsarbeit bei den
Verbrauchern“. Im lokalen Edeka an der Kasse nach dem Marktleiter zu
fragen, das funktioniere, sagt Fischer. Öffentlich kaufen. „Wenn das einer
macht, ist das ein Spinner, wenn viele kommen, wird’s ausgelistet.“
Bündnispartner von Zivil Courage sind Umweltverbände und Gewerkschaften,
aber auch die Gebirgsschützen in Garmisch-Partenkirchen.
„Dann wird das ausgelistet“
Die Molkerei „Berchtesgardener Land“ erlaubt nur noch auf gentechnikfreie
Fütterung. Das sind die wahren Erfolge: Wenn eine Molkerei umstellt. „Da
ist der Druck spürbar“, sagt Fischer. Nun soll sich endlich auch die Kirche
positionieren, findet der Aktivist, „auch wenn die Angst haben“. Die
Konservativen, die CSUler hätten es doch auch schon erkannt, dass sie „den
Anschluss verlieren“. Einzelne von denen sähen Bayern ja durchaus als
„Feinkostladen Deutschlands“. Und die Bauern an der Basis eh – bei den
Landwirten habe man, was die Forderung nach einer anderen Landwirtschaft
betrifft, „die kritische Masse“ bereits erreicht. Es hapere nur bei den
Verbänden.
Auch die Bierbrauerei Neumarkter Lammsbräu beteiligt sich an der
Mobilisierung für die Demonstration: Mit Flyern und Plakaten. Thomas Weiß,
Nachhaltigkeitsmanager sagt, die Gentechnik-Freiheit sei ein wichtiger
Aspekt – aber nicht alles. Indirekt würde natürlich das Thema Dumpingpreise
eine Rolle spielen. Eine Diplomarbeit habe herausgefunden, dass Lammsbräu
durch sein Geschäftsmodell viermal so viele Arbeitsplätze in der Region
sichere wie eine Dumping-Brauerei. 1988 schlossen sich Vertragsbauern der
Neumarkter Lammsbräu zur „Erzeugergemeinschaft für ökologische
Braurohstoffe“ zusammen. Lammsbräu zahlt seine Mitarbeiter über Tarif. „W…
schätzen aber, dass dies den Verbrauchern gar nicht bewusst ist. Wir
glauben: Die kaufen das Bier wegen des Bio-Gedankens“.
SlowFood hat sich erstmals politisch geäußert
Auch das wird politischer. Die Initiative SlowFood hat sich anlässlich der
Demo zum ersten Mal überhaupt politisch geäußert – und in den Ortsgruppen,
die sich treffen, um dem guten Essen zu frönen, kam das „überraschend gut
an“, weiß Jochen Fritz aus dem Wir-haben-es-satt-Demobüro. 450.000 Flyer
und 18.000 Plakate wurden gedruckt – alle sind verschickt.
Die politischen Rahmenbedingungen für eine offene Diskussion um eine
gerechte Ernährungspolitik sind besser geworden. Auch durch die
rückwärtsgewandte Politik, die in diesem Bereich in Deutschland seit 2006
gemacht wurde. Die Große Koalition hat Massentierhaltung wieder
erleichtert. Der Gentechnik-Diskurs hat seit der Zulassung der Kartoffel
Amflora und das Verbot des Gen-Maises MON810 neuen Schwung erhalten. Und
die EU-Kommission überarbeitet aktuell die Agrar-Subventionen. Ziel der
Befürworter einer neuen Agrarwende ist es, dass die EU-Subventionen
umgestaltet werden: Weg von der Exportorientierung, weg vom Focus auf die
großen Flächen, hin zu einer regionaleren und an Arbeit und Qualität
orientierten Förderung.
„Europaweiter Bürgerdialog über Agrarpolitik“
„Wir wollen einen europaweiten Bürgerdialog über die Agrarpolitik“, sagt
Georg Janßen von der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (ABL).
Zusammen mit anderen NGOs wie Miserior und "Brot für die Welt" wird die ABL
eine Kampagne starten, um den EU-Kommissar, „der ja eigentlich gute
Vorschläge gemacht hat“, bei der Reform der EU-Agrarsubventionen zu
beeinflussen. Insbesondere aus Deutschland würden Schritte in die richtige
Richtung allerdings blockiert, von der Bundesregierung, den Konzernen und
vom Deutschen Bauernverband. „Wir werden ebenfalls Lobbying machen“,
kündigt Janßen an. Er selbst wird den Politikern und Konzernen am Rande der
Grünen Woche, die Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner zu einem „Davos
der Agrarwirtschaft“ ausbauen will, mit Traktoren einen Besuch abstatten.
Danach fahren die Bauern vom Messegelände zur Großdemo.
Vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) allein fahren mehr
als 40 Busse nach Berlin, insgesamt werden es wohl an die 70 werden.
Manfred Radtke aus Rotenburg hat zwei Busse organisiert. „Erst hatten wir
nur einen geplant“. Vor Weihnachten waren es noch nicht so viele, die zur
Demo nach Berlin mitfahren wollten, mit dem Dioxin-Skandal kamen dann aber
viele, die auch mitfahren wollten. Im Bus werden nicht nur BUND-Mitglieder
sitzen, sondern auch Umweltschützer vom Nabu und vom lokalen Klimabündnis,
außerdem vom „Bündnis für artgerechte Tierhaltung“. Aus Niedersachsen und
Mecklenburg-Vorpommern kommen die Leute vor allem wegen der geplanten
Massenställe und Riesen-Schlachtereien.
„Wie ein Krebsgeschwür“
„Das ist wie ein Krebsgeschwür, das Metastasen verursacht“ vergleicht
Norbert Juretzko von der Bürgerinitiative in Wietze. Dort, im Herzen
Niedersachsens ist eine Massenschlachterei geplant, 135 Millionen Tiere
sollen dort pro Jahr geschlachtet werden. Die lokale Bürgerinitiative setzt
sich gegen die Tötungsfabrik in ihrer Nachbarschaft ein. Vor einem Jahr als
Verein gegründet, hat sie heute 1250 Mitglieder – vor allem aus der Region.
Juretzko ärgert sich, dass die Bürger bei einem solchen Großprojekt so
wenig Mitspracherecht haben. Der Betreiber der geplanten Massenschlachterei
sei nie aufgetaucht. „Was der sagt, das hören wir über 3 Ecken“. Und das
mache wütend, so wie bei Stuttgart 21. „Da gehen die Bürger auf die
Barrikaden“. Auch, weil es der Industrie von der Politik zu einfach gemacht
würde. Um einen Bolzplatz für Jugendliche durchzuboxen, brauche man 3
Jahre, die Schlachtanlage in Wietze sei innerhalb von 9 Monaten
festgeklopft gewesen.
Eine neue Foodbürger-Bewegung
Die Foodbürger-Bewegung ist vielfältig: Tierschützer, Gentechnik-Gegner und
Eine-Welt-Aktivisten haben erstmalig im großen Stil den Schulterschluss mit
den Landwirten gewagt – dem Dioxin-Skandal ist es zu verdanken, dass die
Demo ein Erfolg wird, wenn das Wetter einigermaßen stabil ist. Auch wenn
der Anteil ökologischer Landwirtschaft absolut bei gerade mal knapp sechs
Prozent liegt, so ist es dennoch nicht unmöglich, eine kritische Masse für
einen Systemwechsel zu erreichen.
Ob jedoch der Systemwechsel hin zu einer „bäuerlich-ökologischen
Landwirtschaft“ gelingen kann, ist offen. Ein solcher Wandel muss nicht
rückwärtsgewandt oder natur-romantisch sein: In einer zivilisierten,
fortschrittlichen Gesellschaft haben Tierquälerei und Gift-Skandale keinen
Platz. Das kann der Verbraucher selbst entscheiden – am besten laut an der
Ladenkasse, so wie es Zivil Courage in Bayern empfehlen. Vor allem aber ist
die Politik in der Pflicht: Die Neuverteilung der Agrar-Subventionen auf
EU-Ebene innerhalb der kommenden zwei Jahre wird hierbei eine zentrale
Rolle spielen.
21 Jan 2011
## LINKS
[1] http://wir-haben-es-satt.de/
[2] http://zivilcourage.ro/php/index.php
## AUTOREN
Julia Seeliger
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