# taz.de -- Tunesischer Menschenrechtler: Mit Hymne, Fahne und Onkel Ali | |
> Der 78-jährige Ali Ben Salem hat Folter und Haft überstanden. In Bizerte | |
> ist das Mitglied der bisher verbotenen Tunesischen Liga für | |
> Menschenrechte das Symbol der Revolution. | |
Bild: Ali Ben Salem inmitten von Demonstranten gegen die Überbleibsel des alte… | |
BIZERTE taz | Ali Ben Salem ist sichtlich gerührt. Er schaut die Straße | |
hinunter, die ins Stadtzentrum führt. "RCD raus!", skandiert die langsam | |
näher kommende Menge. Es sind Menschen aller Altersgruppen, die eines eint: | |
der Wunsch nach einer vollständigen Zerschlagung des alten Systems, die | |
restlose Entmachtung der früheren Regierungspartei RCD des gestürzten | |
tunesischen Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali. Seit Tagen geht das so. | |
Und hier in Bizerte, 70 Kilometer westlich von Tunis, ist die wichtigste | |
Station der friedlichen Märsche stets das Haus von Ben Salem. "Am Ali", | |
"Onkel Ali", nennen sie ihn hier liebevoll, selbst seine Frau Zeineb. | |
Ben Salem tritt auf den Balkon im ersten Stock seines Hauses. Jemand bringt | |
eine tunesische Fahne. Unten rufen die Leute Parolen, lassen ihren "Am Ali" | |
hochleben und singen die tunesische Nationalhymne. Er grüßt ohne Unterlass, | |
versucht sich an einer Ansprache, aber die Stimme versagt. Tränen schießen | |
ihm in die Augen. | |
Der kleine und trotz seiner 78 Jahre noch quirlige Mann ist das Symbol | |
ihrer Revolution. Mehr als die rote tunesische Fahne mit Halbmond und | |
Stern, die sie mit sich führen, und mehr als die Nationalhymne, die sie | |
immer wieder anstimmen. Ali Ben Salem machte ihnen die ganze Zeit über Mut. | |
Er steht für den ungebrochenen Widerstand in den 23 dunklen Jahren der | |
Diktatur. Ben Salem gehört der bis vor wenigen Tagen verbotenen Tunesischen | |
Liga für Menschenrechte an. Er sammelte unermüdlich Informationen über | |
Menschenrechtsverletzungen und reichte die immer länger werdende Listen an | |
internationale Menschenrechtsorganisationen und die UNO weiter. Dafür | |
lieben sie ihn in der 230.000 Einwohner zählenden Hafenstadt Bizerte. | |
"Ich hätte nicht gedacht, dass ich das noch erleben darf", beginnt Ben | |
Salem beim Kaffee. Er war sich sicher, dass Diktator Ben Ali ihn überleben | |
würde. Kleinlaut gesteht er ein, dass er Mitte Dezember, als nach der | |
Selbstverbrennung eines jungen Arbeitslosen in Zentraltunesien die | |
Jugendproteste begannen, nicht an Veränderung glaubte. "Ben Ali hat immer | |
mit hart durchgegriffen. Ich war mir sicher, dass er wieder Herr der Lage | |
würde", erzählt der gelernte Topograf, der wegen seines Engagements für die | |
Menschenrechte nur selten Arbeit fand. | |
Erst als sich die spontanen Jugendproteste Anfang Januar ausbreiteten und | |
auch Bizerte erreichten, ahnte Ben Salem, dass es dieses Mal anders | |
ausgehen könnte. Er begann zu hoffen. Und dann kam der Freitag, der 14. | |
Januar. Der Diktator Ben Ali dankte ab und floh nach Saudi-Arabien. So | |
richtig zum Feiern ist Ben Salem dennoch nicht zumute. "Wir sind noch lange | |
nicht fertig. Das ganze alte, korrupte System muss weg", sagt er. Er | |
unterstützt die Proteste gegen die Übergangsregierung und deren aus der RCD | |
stammenden Minister. | |
"Ich stand bei den Demonstrationen nur am Straßenrand und schaute zu. Ich | |
bin alt und müde", entschuldigt er sich. Dann kommt er auf die Folter und | |
die Haft zu sprechen, die seiner Gesundheit zugesetzt haben. Fast ein | |
halbes Jahrhundert ist seine erste Verurteilung her. 1962, sechs Jahre nach | |
der Unabhängigkeit, wurde er unter dem ersten Präsidenten Tunesiens, Habib | |
Bourguiba, zu zwanzig Jahren Haft verurteilt, weil er sich an einem | |
Umsturzversuch beteiligt hatte. Ein Ziel der damaligen Umstürzler: der | |
vollkommene Bruch mit Frankreich. | |
"Elf Jahre habe ich abgesessen, anderthalb davon war ich angekettet", | |
berichtet er. "Ob es der linke oder der rechte Fuß war, der in Ketten lag? | |
Ich weiß es nicht mehr." Jahreszahlen und kleine Details tanzen in seiner | |
Erinnerung. Immer wieder klopft er sich mit der flachen Hand auf den Kopf, | |
als würde dies die Gedanken lösen. "Immer dieser Alzheimer", lacht er | |
dabei. | |
Auf seinem Computer zeigt er ein Titelblatt vom Tag des Urteils gegen die | |
Verschwörer. Einer der Anführer war Kapitän Moncef El Materi, später ein | |
enger Vertrauter von Ben Ali und einer der reichsten Männer des Landes. Ben | |
Salem und seine Frau Zeineb hingegen leben von einer kleinen Rente, die er | |
als Veteran des Kampfes gegen die französische Kolonialherrschaft erhält. | |
"Ben Ali war nicht immer verhasst", fährt Ben Salem fort. Als der einstige | |
Sicherheitschef 1987 durch einen unblutigen Putsch an die Macht kam, hatte | |
Ben Salem wie viele andere Tunesier auch Hoffnung auf eine Öffnung. "Doch | |
schon 1989 war alles vorbei. Ben Ali beschwor die islamistische Gefahr und | |
bekam so die Unterstützung des Westens." Tausende Linke und Islamisten | |
wurden verhaftet. Eine nicht genehme Meinung oder auffällig häufige | |
Moscheebesuche hätten genügt, wegen versuchten Aufstands oder Terrorismus | |
verurteilt zu werden. Nur den wenigsten sei ein tatsächliches Delikt | |
vorgeworfen worden. | |
Wegen seines Engagements für die Gefangenen und Misshandelten wurde auch | |
Ben Salem überwacht, im Jahr 2000 schließlich verhaftet und schwer | |
gefoltert. "Drei Rückenwirbel haben sie mir gebrochen", berichtet er und | |
zeigt auf sein Bett, ein Holzbrett mit dünner Decke. Nur so hält er die | |
Schmerzen aus, die er bis heute hat. | |
Die Tortur endete damals nur, weil die Polizisten im Innenministerium ihn | |
für tot hielten und ihn in eine Baugrube schmissen. "Arbeiter fanden mich | |
und brachten mich ins Krankenhaus von Tunis." Als auch dort wieder die | |
Polizei auftauchte, floh er durchs Fenster. Freunde fuhren ihn nach | |
Bizerte. | |
Als er seinen Fall vor die UN-Menschenrechtskommission brachte, wurde die | |
Lage dramatischer. Man nahm ihm seinen Krankenkassenausweis ab, Bizerte | |
durfte er fortan nicht mehr verlassen. "Ich konnte zwar aus dem Haus, aber | |
wer sich mir näherte, bekam es ebenfalls mit der Polizei zu tun", berichtet | |
Ben Salem. Zwei seiner drei Kinder leben seit vielen Jahren in Frankreich. | |
Bis heute hat Ben Salem sie nicht besucht. Er hat keinen Pass. "Ich war in | |
den ganzen Jahren ständiger Kunde bei der Polizei", sagt er. Als sie ihn | |
nach seiner Klage bei der UN zum Verhör abholten, schlugen die Polizisten | |
seine Frau mit der Faust ins Gesicht, bis sie überall blutete. | |
Polizei gibt es in Bizerte seit Tagen nicht mehr. Die Spitzel sind aus dem | |
Straßenbild verschwunden. Ein paar Soldaten bewachen staatliche Gebäude. | |
Die Scharfschützen, die unmittelbar nach Ben Alis Sturz die Vororte | |
unsicher machten, hat die Armee längst vertrieben. Die Geschäfte, die aus | |
Angst vor Plünderungen geschlossen und mit Metallplatten verbarrikadiert | |
wurden, öffnen wieder. Nur der Supermarkt Monoprix im Stadtzentrum wurde | |
Opfer der Flammen. Die Handelskette gehört zum Imperium des Clans rund um | |
Ben Ali. Von der Staatspartei RCD ist ebenfalls nichts mehr zu sehen. Im | |
Innenstadtbüro wurde das Schild demoliert; jemand hat "Volkshaus" an die | |
Wand gesprüht. | |
"Beim Provinzbüro der Partei haben wir das Schild ausgewechselt", berichtet | |
Ben Salem stolz. Jetzt hängt ein Transparent am Gebäude. | |
"Mohammed-Bouazizi-Haus" steht darauf zu lesen, im Gedenken an den jungen | |
Arbeitslosen, der mit seiner Selbstverbrennung in Sidi Bouzid die | |
Revolution ausgelöst hat. | |
Bei den Ben Salems läuft das Staatsfernsehen. Das ist neu. "Keiner hat | |
diesen Sender früher gesehen. Wir haben uns alle per Satellitenfernsehen | |
und im Internet informiert", sagt er. Plötzlich aber sind politische | |
Debatten mit Oppositionellen zu sehen, Nachrichten, die ihren Namen | |
verdienen, Programme, bei denen Tunesier aus dem ganzen Land anrufen, um | |
von ihren Sorgen und Nöten zu erzählen - und vor allem ihre Meinung | |
kundzutun darüber, was die Nach-Ben-Ali-Ära bringen soll. | |
Auch Ben Salem macht sich Gedanken. "Die RCD-Leute müssen alle weg, vor | |
allem der Innen- und Finanzminister", sagt er. Sie hätten sich mitschuldig | |
an den Verbrechen Ben Alis gemacht. "Und wir müssen wachsam sein, dass | |
nicht die Armee die Macht übernimmt", fügt er nach einer Pause hinzu und | |
spricht damit eine Gefahr an, deren sich dieser Tage in Tunesien nur wenige | |
bewusst sind. | |
Da die Soldaten die Scharfschützen der Präsidentengarde und Milizen überall | |
im Lande zurückgedrängt haben, genießen sie ein hohes Ansehen. Doch Ben | |
Salem traut ihnen nicht. Schließlich stammte auch Ben Ali aus ihren Reihen. | |
"Eine Militärdiktatur wäre noch schlimmer als alles, was wir durchlebt | |
haben." Seine andere Sorge gilt den Islamisten. Er ist sich sicher, dass | |
sie wieder auf der politischen Bühne mitspielen werden. "Ich kenne sie gut, | |
schließlich habe ich sie verteidigt", sagt er und meint dann: "Wir müssen | |
darauf achten, dass das neue Tunesien Staat und Religion strikt trennt." | |
Zum Abschied zeigt Onkel Ali stolz das Schild der Menschenrechtsliga, das | |
all die Jahre seine Gartenmauer schmückte. Es wurde von der Polizei | |
irgendwann mit blauer Farbe überstrichen. Es regnet nicht oft in Bizerte, | |
und dennoch wurde die Farbe über die Jahre Tropfen für Tropfen abgewaschen. | |
Der Schriftzug kam langsam, ganz langsam wieder zum Vorschein. Jetzt ist | |
die Zeit gekommen für ein neues Schild. Ben Salem hat es bereits in Auftrag | |
gegeben. | |
24 Jan 2011 | |
## AUTOREN | |
Reiner Wandler | |
## TAGS | |
taz.lab 2011 „Die Revolution haben wir uns anders vorgestellt“ | |
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