Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kolumne Das Schlagloch: Startschuss für die Zukunft
> Schon vor zwei Jahren spürte ich bei einer Tunesien-Reise eine repressive
> Stimmung. Wir werden die Demokratie durchsetzen, sagt jetzt mein
> tunesischer Bekannter.
Nur einmal war ich in Tunesien, vor knapp zwei Jahren, es war eine Reise
ohne besondere Vorkommnisse. Die Foire Internationale du Livre war in einer
jener gesichtslosen Messehallen untergebracht, die weltweit Standard sind,
die Besucher scharten sich um die Stände. Eine Buchmesse wie jede andere
auch, hätte man meinen können, abgesehen von der auffällig geringen Zahl an
Ausstellern, obwohl sich die ganze arabische Verlagsszene präsentierte.
Und doch spürte ich unter der glatten und effizienten Oberfläche eine
besondere, eine repressive Stimmung. Die Gesprächspartner umkurvten geübt
jede politische Klippe, und jene, die ohne Maulkorb sprachen, meistens nach
Tunesien entsandte Europäer, erwähnten ein Netzwerk von Spitzeln und eine
Mauer der Zensur, die jeden freien Gedanken im Keim erstickten. Das Regime
Ben Alis stützte sich auf einen allmächtigen Polizeiapparat - 150.000 bis
180.000 Polizisten im Vergleich zu 30.000 Soldaten -, der zu einem Bollwerk
gegen Opposition ausgebaut worden war. Gewerkschaften, Parteien und
Organisationen der Zivilgesellschaft wurden gleichgeschaltet
beziehungsweise verboten. Unter festem Zuckerguss erwies sich das
Musterland Tunesien als bittere Diktatur.
Am unbeschwertesten konnte ich mich mit meinem Übersetzer Sahbi Thabet
unterhalten, einem Germanistikprofessor an der Universität, der Arabisch,
Französisch und Deutsch perfekt beherrscht und über eine entsprechend weit
gefächerte Bildung verfügt. Auf langen Spaziergängen am Strand und bei
Sonnenuntergang in einem der Cafés des oft gemalten andalusischen Dorfes
Sidi Bou Said diskutierten wir über Gott und die Welt und die Studenten,
die nach ihrem Abschluss meist keine adäquate Arbeit finden und samt ihren
Hoffnungen abstürzen.
Aber noch mehr habe sie, schreibt mir Sahbi Thabet dieser Tage, da die
Schulen, Universitäten und sonstigen Bildungsanstalten immer noch
geschlossen sind, das Gefühl der Vernachlässigung und Missachtung
frustriert. Zur Demütigung durch einen Polizeistaat, dessen Handlungen
durch allgegenwärtige Willkür geprägt waren, gesellte sich die schleichende
Verschlimmerung des Unterrichtsniveaus. Schüler und Studierende behandelte
man autoritär von oben herab, nie wurde nach ihren Bedürfnissen und
Belangen gefragt. Die Diktatur behinderte Lehrende und Lernende zugleich.
Folgerichtig empfinden nun sowohl Professoren als auch Studenten die
Ereignisse der letzten Wochen als eine beispielhafte Aktion der
Selbstbefreiung, durch die sich gerade die junge Generation in Tunesien zu
artikulieren beginnt. Es war eine Revolte um Brot und Wort. Es stimmt einen
froh, wenn man hört, dass die Studenten eine neue Zuversicht gewonnen
haben, die es ihnen ermöglicht, sich allmählich von den alten Ängsten zu
befreien.
Die Hoffnungen, schreibt Sahbi Thabet, die sich mit einer Freiheit
verknüpfen, auf die die Tunesier über fünfzig Jahre lang gewartet haben,
seien groß, und das Risiko, dass die alte herrschende Klasse in einem neuen
Gewand die Macht wieder an sich reißt, verhältnismäßig gering. Die
vertikale Struktur der Machtausübung sei bereits zerstört worden (auch in
den meisten Köpfen), die Übergangsregierung erledige die alltäglichen
politischen Geschäfte, aber sie arbeite bereits ernsthaft daran, sämtliche
Konstituenten einer horizontalen, demokratischen und vor allem
freiheitlichen Verfassung festzulegen.
Die Wahlen, die spätestens in sechs Monaten stattfinden werden und an denen
ausnahmslos sämtliche Parteien teilnehmen können, werden diese Entwicklung
reflektieren und vorantreiben. Auch einst gleichgeschaltete Organisationen
wie etwa die Gewerkschaften scheinen ihr beschämendes Verhalten unter der
Diktatur Ben Alis durch übertriebenen Aktionismus wettzumachen. Obwohl
unklar ist, wieso die Armee bislang neutral geblieben ist - manche
Beobachter vermuten, dass sie ihre Befehle nicht von der Übergangsregierung
erhält, sondern von außerhalb -, genieße sie das Vertrauen der Bevölkerung,
denn sie hat es abgelehnt, auf die Demonstranten zu schießen.
So weit, so gut, und doch bleibt für einen europäischen Betrachter ein
bitterer Nachgeschmack übrig aufgrund der schändlichen Verhaltensweise der
angeblich vorbildlichen Demokratien der EU, deren Reaktionen vom
übereifrigen Angebot, die Polizei zur Amtshilfe beim Niederknüppeln und
-schießen zu entsenden (Frankreich), bis hin zu lauer Rhetorik
(Deutschland) und viel zu später Anerkennung (USA) reichten. Als sollte ein
weiteres Mal der verkommene Zynismus der Realpolitik bewiesen werden.
Sahbi Thabet widerspricht naiven Erwartungen, wenn er darauf hinweist, dass
sich die Tunesier angesichts des Verhaltens westlicher Demokratien
gegenüber anderen arabischen Ländern (Irak, Palästina usw.) von solchen
Illusionen längst verabschiedet haben. Abgesehen von jenen Tunesiern, die
von Europa aus für die Menschenrechte in ihrem Land gekämpft hätten, habe
niemand mit einem stärkeren Engagement des Westens, mit seiner Einmischung
zugunsten der Demokratie in Tunesien gerechnet. Das habe der Verlauf des
tunesischen Aufstands nur bestätigt.
Jeder Tunesier auf der Straße könne einen mit der bitteren Wahrheit
konfrontieren, dass der Westen 23 Jahre lang nichts gesehen hat oder nichts
hat sehen wollen. Und so ist es nicht überraschend, dass unsere Medien
keineswegs hymnisch auf die Ereignisse in Tunesien reagieren, sondern - wie
manch ein Leitartikel belegt - mit postkolonialer Hochnäsigkeit abwägen, ob
denn nicht die wirtschaftliche Entwicklung wichtiger sei als die
freiheitliche Verfasstheit des Landes und ob nicht vox populi schnell in
vox Dei umschlagen könne, damit wir ja nicht vergessen, dass das Menetekel
des Islamismus überall lauert. Dabei bestätigen säkulare Araber wiederholt,
dass gerade die fortdauernde Unterdrückung des Volkes den Islamismus
wachsen lassen wird. Es ist, als ob der Westen immer wieder dem Vorbild
Frankensteins nacheifert.
25 Jan 2011
## AUTOREN
Ilija Trojanow
## TAGS
taz.lab 2011 „Die Revolution haben wir uns anders vorgestellt“
taz.lab 2011 „Die Revolution haben wir uns anders vorgestellt“
## ARTIKEL ZUM THEMA
Proteste in Ägypten: Der Aufstand der Jungen
Erstmals in der Geschichte Ägyptens weichen die Menschen nicht zurück vor
einem übermächtigen Staatsapparat. Kippt nun auch Präsident Husni Mubarak?
Tunesiens Star-Blogger Slim 404: Vom Twitterer zum Machthaber
"Es tut gut, den Justizminister zu hören, der einen Haftbefehl verliest,
der mit Namen Ben Ali anfängt", schreibt Slim404. So twittert ein
tunesischer Staatssekretär.
Blogger Evgeny Morozov über Demokratie: "Das Internet wird überschätzt"
Die Proteste im Iran galten als "Twitter-Revolution". Der Wissenschaftler
Evgeny Morozov über den Unterschied zu Tunesien und die Bedeutung von
sozialen Medien für politische Umstürze.
Tunesische Bloggerin über Revolution: "Wir führen die Zukunftsdebatte"
Lina Ben Mhenni bloggt seit 2007 in Tunesien. Im Interview berichtet sie
von Zensoren, Repressionen und der Macht des Internets während der
Jasmin-Revolution.
Tunesischer Menschenrechtler: Mit Hymne, Fahne und Onkel Ali
Der 78-jährige Ali Ben Salem hat Folter und Haft überstanden. In Bizerte
ist das Mitglied der bisher verbotenen Tunesischen Liga für Menschenrechte
das Symbol der Revolution.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.