# taz.de -- Nora Lafi über den Aufbruch in Nordafrika: "Eine Revolution der Ju… | |
> Die Veränderungen in der tunesischen Zivilgesellschaft könnten ein Modell | |
> für die arabische Welt sein, sagt die Historikerin Nora Lafi. Jetzt fängt | |
> die Revolution erst an. | |
Bild: Die Regierung ist ausgetauscht – doch die Veränderung der Gesellschaft… | |
taz: Frau Lafi, die tunesische Revolution hat einen Vorsprung vor der | |
ägyptischen. Wie gestalten sich nun die Mühen der Ebene ? | |
Dr. Nora Lafi: Jetzt fängt die Revolution erst an: nämlich der Prozess zur | |
Veränderung der Gesellschaft. Und diese Revolution ist langwierig. Aber die | |
Tunesier sind wachsam und das Land versinkt nirgends im Chaos. Es läuft | |
alles wieder erstaunlich normal. | |
Was sind die größeren Schwierigkeiten? | |
Die Partei des abgesetzten Präsidenten Ben Ali, die RCD, ist sehr stark im | |
Land verankert, gut organisiert. Und es sitzen noch viele Politiker der RCD | |
in der Regierung. | |
Diese ist aber nur als Übergang gedacht? | |
Schon. Aber wie soll die Regierung auf allen Ebenen von der Korruption | |
gereinigt werden, wenn die alten Protagonisten dort und auch in der | |
Verwaltung sitzen. Es gab natürlich auch aufrechte Technokraten in der | |
tunesischen Verwaltung. Das Problem bleibt aber, dass Ben Ali und seine | |
Umgebung alles infiltriert haben. Die Absetzung Ben Alis war zunächst eine | |
Entscheidung innerhalb seiner Partei, die trotz des Drucks der Straße so | |
ihre Pfründen verteidigen wollte. Aber das haben die Leute auf der Straße | |
sehr gut begriffen: sie fordern zu Recht weiter die Absetzung der alten | |
RCD-Kader. | |
Es reicht also nicht aus, dass Oppositionelle aus dem Exil und aus Tunesien | |
nun mitmischen und Neuwahlen vorbereiten? | |
Es ist gut, dass viele Intellektuelle zurückgekommen sind, es ist auch gut, | |
dass die alten Parteien und die Islamische Partei mitarbeiten. Aber die | |
tunesische Gesellschaft will einen Neuanfang. Und das noch existierende | |
politische System ist das alte, und dieses muss ganz weg. Die alten | |
Strukturen müssen aufgelöst und aufgearbeitet werden. | |
Nun wurde eine Kommission zur Untersuchung der Polizeigewalt eingesetzt. | |
Tunesien hat die UN-Antifolterkonvention, das Statut des Internationalen | |
Strafgerichtshofes und Menschenrechtsabkommen gebilligt. Man hat hohe | |
Polizeidirektoren in den Ruhestand geschickt. Bröckelt die Macht der alten | |
Nutznießer und Schergen Ben Alis ? | |
Das sind alles wichtige Schritte, aber es kommt jetzt darauf an, dass die | |
Zivilgesellschaft die Macht übernimmt und die korrupten Strukturen | |
zerstört. Dass dieses Beziehungsgeflecht, diese Bakschisch-Mentalität, die | |
sich überall eingeschlichen hat, durchbrochen wird. Diese Clanwirtschaft | |
hat die Dynamik aus der Gesellschaft genommen und sie blockiert. | |
Welche Zivilgesellschaft meinen Sie eigentlich? | |
Bevor das Land unter seinem Staatsgründer und ersten Präsidenten Habib | |
Bourguiba zentralisiert wurde - und das ist mein Thema als Historikerin -, | |
gab es immer dezentrale soziale und politische Organisationsstrukturen auf | |
der Ebene von Stadtvierteln, Bezirken und Regionen. Es sind Leute, die ihre | |
Stadtviertel verteidigen, die Leute in Verbänden wie Ärzte, Anwälte, | |
Journalisten, Studenten, die Gewerkschaften. Vor allem junge Leute, die | |
nicht aus verknöcherten Parteistrukturen kommen. | |
Wie Slim Amamou, der Blogger, der als Staatssekretär für Jugend und Sport | |
in der Übergangsregierung sitzt? | |
Ja, das ist wunderbar. Denn das war keine Revolution alter | |
Oppositionsparteien, sondern eine Revolution der Jugend. | |
Nun wurden 24 Gouverneure der Regionen ersetzt. Geht das in die richtige | |
Richtung? | |
Das ist eine sehr wichtige Entscheidung, denn die Regionen hatten keinen | |
Einfluss. Sie wurden je nach den politischen Interessen in Tunis | |
vernachlässigt oder gefördert. Das war schon unter Bourguiba so. | |
Wie soll die politische Formierung der bislang unterdrückten | |
Zivilgesellschaft funktionieren? | |
Indem sie bewusst aufgebaut wird, indem Europa, das blind gegenüber den | |
Despoten war, nun solche Strukturen gezielt unterstützt. Man muss die | |
bestehende demokratische, laizistische Zivilgesellschaft fördern, das gilt | |
vor allem für das Netzwerk der Jugend. Deren demokratisches Bewusstsein hat | |
die Welt erstaunt. Die Tunesier hätten es verdient, denn sie haben dafür | |
gekämpft. Und sie haben die breiteste Mittelschicht in der arabischen Welt, | |
gute Bildung, Intellektuelle. Sie haben eine starke laizistische Strömung. | |
Das sind alles günstige Voraussetzungen. | |
Die man so beispielsweise in Ägypten nicht findet? | |
Tunesien und Ägypten haben verschiedene Geschichten. Im kleinen Tunesien | |
ist es leichter, nach vorn zu preschen. Tunesien war unter französischer | |
Herrschaft und es hat universelle Prinzipien wie Gleichheit, Freiheit, | |
Brüderlichkeit und republikanisches Bewusstsein stärker verinnerlicht als | |
das großenteils agrarisch geprägte Ägypten. | |
Sie meinen, das unbedeutende Tunesien darf mehr Demokratie wagen? | |
Ägypten hat ein geostrategisches Problem mit seinen Grenzen zu Israel und | |
Gaza. Das Militär ist dort größer, aggressiver, aktiver. Und die | |
Zivilgesellschaft ist weniger entwickelt, es gibt weniger repräsentative | |
Institutionen, weniger Bildung, mehr Armut. | |
Tunesien könnte nun von seiner republikanischen Tradition und deren | |
Institutionen profitieren? | |
Tunesien hat Gewerkschaften, Verbände, Interessengruppen - ein Aufbruch der | |
tunesischen Zivilgesellschaft könnte Modell für die arabische Welt sein, wo | |
es ja nirgends starke Oppositionsparteien gibt. | |
Es gibt nur eine Frau in der Übergangsregierung: Lilia Labidi, Ministerin | |
für Angelegenheiten der Frauen. Ist das nicht etwas wenig für ein Land, das | |
immer von der Gleichstellung der Geschlechter redet? | |
Das zeigt, dass noch nichts gewonnen ist. Und die Zivilgesellschaft muss | |
sich darin beweisen, dass sie die, die ganz unten stehen, mitnimmt. Und | |
ganz unten steht ohne Zweifel die Frage der Geschlechter. Aber das | |
Zeitfenster ist offen. Es ist ein guter Zeitpunkt, in Tunesien all dies neu | |
zu diskutieren, neu zu mischen. | |
4 Feb 2011 | |
## AUTOREN | |
Edith Kresta | |
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