# taz.de -- Debatte Nordafrika: Domino am Mittelmeer? | |
> Im ganzen Maghreb gab es in den letzten Wochen Proteste. Aber ein Umsturz | |
> wie in Tunesien ist in den Nachbarländern nicht zu erwarten. | |
Bild: "Neue Regierung, freies Land": Tunesische Demonstranten konnten ihre Ford… | |
Seit der tunesische Diktator Ben Ali Mitte Januar ins Exil flüchtete, wird | |
auch in Ägypten, dem Jemen, in Jordanien und sogar im Sudan für mehr | |
Demokratie protestiert. Nur in den Maghreb-Ländern Algerien, Marokko und | |
Libyen ist es bislang relativ ruhig geblieben. Dabei existieren dort | |
ähnliche Probleme, die im Nachbarstaat Tunesien zur Revolte führten: eine | |
hohe Arbeitslosigkeit, eine sehr junge Bevölkerung ohne Perspektive, | |
soziale Ungerechtigkeit, Korruption sowie Unterdrückung und fehlende | |
Meinungsfreiheit. | |
Zwar kam es auch in Libyen und Algerien schon zu Protesten. Doch in diesen | |
beiden nominell "sozialistischen" Ländern sitzen die Machthaber bislang | |
fest im Sattel. Beide Länder verfügen - anders als etwa Tunesien - über | |
große Öl- und Gasvorkommen, was ihren Regimes relative finanzielle | |
Stabilität und Machtbasis verleiht. Und die Religion spielt in diesen | |
beiden Staaten, ähnlich wie in Marokko, eine größere, traditionelle Rolle, | |
als im säkularen Tunesien. | |
Dessen erster Präsident Habib Bourghiba ließ schon 1956 die Gleichstellung | |
der Geschlechter per Gesetz festschreiben und sein Nachfolger Ben Ali | |
verfolgte alle islamistischen Gruppen mit großer Härte, der Exdiktator | |
lancierte sogar Kampagnen gegen das Kopftuch oder islamische Barttracht. | |
Islamisten spielten bei den Protesten gegen Ben Alis Regime folglich keine | |
sichtbare Rolle. | |
Algeriens Bürgerkriegstrauma | |
Auch in Algerien protestierten Jugendliche schon vor Wochen gewaltsam gegen | |
die Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln. Doch als die Regierung | |
diese zurücknahm, blieb es erst einmal wieder still auf den Straßen von | |
Algier und Oran. Vom Öl- und Gasreichtum des Landes, das 95 Prozent des | |
Exportvolumens ausmacht, bezahlt die Regierung die Subventionen der | |
Lebensmittel. Ansonsten profitiert die Bevölkerung nur wenig von den | |
fossilen Ressourcen Algeriens. | |
Als Präsident steht Abdelasis Bouteflika seit 1999 an der Spitze eines | |
durch und durch korrupten Militärstaats. Die Armee putschte sich 1991 an | |
die Macht, um einem Wahlsieg der islamistischen "Heilsfront" zuvorzukommen, | |
und löste damit auf Jahre einen blutigen Bürgerkrieg aus. Nach dem Verbot | |
der "Heilsfront" gingen ihre Mitglieder in den Untergrund und bekämpften | |
die Militärdiktatur: ein Kampf, der in den Neunzigerjahren mehr als 120.000 | |
Menschen das Leben kostete. | |
Es ist deshalb fraglich, ob die desillusionierte Jugend Algeriens zu einer | |
ähnlich breiten gesellschaftlichen Mobilisierung wie in Tunesien in der | |
Lage ist. Dazu bräuchte es die Unterstützung konservativer, gar | |
islamistischer Kreise. Doch dazu sitzt das Trauma der Gräueltaten des | |
algerischen Bürgerkriegs wohl zu tief. Auch wollen die meisten jungen Leute | |
von den Islamisten nichts wissen. Seit Jahren bestimmen religiöse | |
Verhaltensregeln den Alltag - ein Korsett, das die Jugend endlich | |
abstreifen möchte. | |
Gaddafi hat Grund zur Sorge | |
In Libyen kam es im Januar zu Unruhen, als neue Wohnanlagen für Ausländer | |
besetzt und zerstört wurden. Doch Staatschef Muammar al-Gaddafi kam | |
umgehend für den Schaden der Baufirma aus Südkorea auf - und gab zugleich | |
24 Milliarden Dollar für den Wohnungsbau für die libysche Bevölkerung frei. | |
Gaddafi regiert den riesigen Wüstenstaat seit 41 Jahren mit harter Hand. | |
Auch er hat Grund zur Sorge, bei über 30 Prozent Arbeitslosigkeit und einer | |
Bevölkerung, deren Durchschnittsalter 24 Jahre beträgt. | |
Erst kürzlich offenbarten die von Wikileaks veröffentlichten Depeschen, | |
welchen dekadenten Lebensstil einige seiner Söhne pflegen - in Tunesien | |
hatten ähnliche Enthüllungen über Ben Alis Familie den Wunsch nach | |
Veränderungen verstärkt. Doch noch ist Gaddafi der unumschränkte Herrscher. | |
Organisationen der Zivilgesellschaft befinden sich unter staatlicher | |
Kontrolle, auf dem Land dominieren vielerorts noch alte Stammesstrukturen. | |
Zudem kann er sich auf seine Volkskomitees stützen, die bis ins letzte | |
libysche Dorf reichen und ihm als eine Art Frühwarnsystem für möglichen | |
Unmut dienen. | |
Ruhig geblieben ist es bisher auch in Marokko. Unter Hassan II. war das | |
Königreich eine Diktatur, in der Regimegegner verfolgt und gefoltert | |
wurden. Doch nach dem Tod des autokratischen Monarchen alter Schule, gibt | |
sich sein Sohn und Nachfolger Mohammed VI. einen wesentlich | |
demokratischeren Anstrich. Er lässt Presse- und Meinungsfreiheit zu, nur | |
Kritik am Königshaus, der Armee und dem Geheimdienst ist nach wie vor | |
streng untersagt. Es gibt ein halbwegs pluralistisches Parlament, in dem | |
sogar eine islamistische Partei sitzt. | |
Marokkos vorsichtige Öffnung | |
Außerdem befindet sich Marokko im ökonomischen Umbruch. In Tanger wurde | |
2007 ein neuer Container-Hafen mit riesigem Industriegebiet eröffnet, in | |
Rabat und Casablanca baut man neue IT-Zentren. Die Armut ging in Marokko in | |
den letzten zehn Jahren um 40 Prozent zurück, ergab jüngst eine Studie des | |
Carnegie Middle East Center in Beirut - eine absolute Ausnahme unter den | |
arabischen Staaten. | |
Doch die sozialen Unterschiede sind immer noch gravierend, Proteste nicht | |
unwahrscheinlich. Arbeitsplätze werden meist unter der Hand über | |
Beziehungen verteilt. Im letzten Jahr blockierten erzürnte Jugendliche | |
deshalb mehrere Tage lang den Hafen von Sidi Ifni, unweit des bekannten | |
Ferienorts Agadir. | |
Doch zum Sturz Mohammeds VI. wird es nicht kommen. Der 47-jährige Monarch | |
ist zugleich oberster religiöser Führer des Landes. Und einen König, der | |
sich auf ein traditionelles Stammes- und Klansystem stützt, stürzt man | |
nicht so leicht wie einen Diktator. Im Notfall könnte der König einfach - | |
wie König Abdullah in Jordanien - eine neue Regierung berufen. | |
Für Europa ändert sich durch den Umbruch im Tunesien daher vorerst wenig. | |
Bald dürfte es für Frankreich und Deutschland, die beiden wichtigsten | |
Handelspartner Tunesiens, wieder business as usual heißen. Und die EU kann | |
wieder ihre jährlichen Finanzhilfen in Millionenhöhe überweisen, ohne wegen | |
der Menschenrechtslage rot zu werden. An der Flüchtlings- und | |
Migrationspolitik dürfte sich wenig ändern - dafür bezahlt die EU zu gut. | |
Der Maghreb hält die Grenzen dicht. Und von den wenigen, die es trotzdem | |
von Algerien oder Libyen aufs Meer schaffen, sterben zwei Drittel auf der | |
Überfahrt. | |
4 Feb 2011 | |
## AUTOREN | |
Alfred Hackensberger | |
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