# taz.de -- Revolution in Ägypten: "Das ist jetzt mein Land" | |
> In Kairo räumen die Demonstranten den Tahrir-Platz auf. Es herrscht | |
> Aufbruchstimmung. Die Armee will in sechs Monaten Neuwahlen abhalten. | |
Bild: Demonstranten und Soldaten bauen gemeinsam die Zelte auf dem Tahrir-Platz… | |
KAIRO taz | Kann eine Revolution eigentlich einen Abschluss haben? Wenn ja, | |
dann war das ein krönender - sofern man das so beschreiben kann, weil | |
Revolution und Krone eigentlich nicht so recht zusammenpassen. | |
Auf dem Abdel-Monem-Riad-Platz im Zentrum Kairos, nicht weit vom | |
Tahrir-Platz entfernt, schiebt sich ein Mann langsam in seinem klapprigen, | |
alten Rollstuhl voran. Zwischen seine Schenkel hat er einen Topf schwarzer | |
Farbe geklemmt. In der Hand hält er einen Pinsel. Mühsam beugt er sich | |
herunter, um den Bordstein anzustreichen. Er kommt nur langsam voran. In | |
der nächsten halben Stunde wird er gerade mal ein paar Meter schaffen. Den | |
Bürgersteig zu verschönern ist sein Beitrag zur ägyptische Revolution. | |
Noch vor wenigen Wochen hat er sich mit seinem Stuhl wahrscheinlich an | |
einer der Straßenkreuzungen an den Reihen der wartenden Fahrzeuge | |
entlanggeschoben, um bei Rot an deren Fenster zu klopfen und ein wenig Geld | |
zu erbetteln. Heute lächelt er und antwortet auf die kurze Frage, was er | |
denn da mache, mit einem kurzen: "Das ist jetzt mein Land." Dann taucht er | |
den Pinsel wieder ein und beugt sich in Zeitlupe wieder herunter. | |
Ein mächtiges Symbol dafür, wie ein Mensch seine Würde wiedergewinnen kann. | |
Es ist ein großes Wort, aber auch ein großer Moment. | |
Denn der Rollstuhlfahrer ist nicht allein. Neben ihm kehrt eine Gruppe | |
Jugendlicher die Straße. An ihrer Markenkleidung ist zu erkennen, dass sie | |
aus besserem Hause stammen. Manche wirken etwas unbeholfen in dieser | |
staubigen Atmosphäre. Geübt im Straßenfegen sind sie sicher nicht. Sie | |
singen: "Wir machen Schluss, wir räumen auf." Angesprochen auf die | |
Zweideutigkeit, ob sie damit den Müll oder die Diktatur meinen, lachen sie. | |
Sie arbeiten in Teams. Einer schwingt den von zu Hause mitgebrachten Besen, | |
der andere hat eine Kehrschaufel und einen schwarzen Müllsack dabei. | |
Sehr ungewöhnliche Teams sind darunter. Wie der ältere Mann mit einem | |
Gebetsfleck auf der Stirn und seiner konservativen Kleidung, der der | |
fröhlich kehrenden jungen Frau mit offenem Haar und unbedeckten Armen den | |
Sack aufhält. Noch vor ein paar Wochen hätte er die Frau mit ihrer in | |
seinen Augen verwerflichen Kleidung wahrscheinlich nicht einmal angesehen. | |
Jetzt unterhalten sie sich angeregt und lachen miteinander. | |
Husni Mubarak ist weit weg. "Von der Veränderung zum Aufbau", titelt die | |
unabhängige Tageszeitung al-Masry al-Youm und zeigt das gleiche Bild vom | |
Säubern der Stadt, das auch die staatliche Tageszeitung al-Ahram auf ihrer | |
Titelseite hat. Eine neue mediale Einheit, bei der man sich fragt, wohin | |
denn die Hofberichterstatter Mubaraks verschwunden sind. Oder schreiben sie | |
nach dessen Abgang nun ihre einstudierten Lobeshymnen auf die ägyptische | |
Revolution und ihre Jugend? | |
Aber vielleicht kann man hier auch auf die Selbstreinigungskräfte der | |
staatlichen Institutionen vertrauen. Dort saßen auch qualifizierte | |
Menschen, oft verdrängt in die hinteren Reihen von den opportunistischen | |
Jasagern. Der ägyptische Beamtenapparat ist groß, und unter den Schreibern | |
des Pharaos gab es schon immer kritische Naturen, die die opportunistischen | |
Vordrängler jetzt schnell an ihre unrühmliche Vergangenheit erinnern | |
werden. | |
Und die Armee? Die taucht im Leben der Ägypter derzeit in zwei Varianten | |
auf. In Form des Militärsprechers im Fernsehen, der die neusten | |
Militärkommuniqués verkündet. Am Sonntag erklärte der Militärrat die | |
Auflösung des Parlaments, setzte die Verfassung außer Kraft und erfüllte | |
damit zwei weitere Forderungen der Protestbewegung. Das Militär werde das | |
Land für sechs Monate führen, sollten nicht vorher Präsidentschafts- und | |
Parlamentswahlen abgehalten werden, hieß es in der Mitteilung weiter. Zuvor | |
dürfte sich Israel erleichtert gefühlt haben, als ein Militärsprecher | |
zusicherte, dass Ägypten sich an alle geschlossenen Verträge halten werde, | |
also auch an den Friedensvertrag mit dem Nachbarland. | |
Aber Israel ist weit weg für die meisten Ägypter. Sie wollen wissen, wie es | |
im Innern weitergeht. Oft wurde in den letzten Tagen auch diskutiert, was | |
genau denn nun das Regime zum Kippen gebracht hat. Darauf gibt es viele und | |
keine Antworten. Vielleicht war es eine ganze Ansammlung von Ereignissen. | |
Etwa letzte Woche Montag, als der bekannte ägyptische Chirurg Tarek Hilmi | |
in einem der privaten ägyptischen Fernsehanstalten erschien, um seine | |
Geschichte zu erzählen. Zunächst habe sich die Familie darüber lustig | |
gemacht, als seine Tochter auf den Tahrir-Platz gegangen sei, erzählte er. | |
Am nächsten Tag sei der Sohn der Schwester gefolgt, als er gehört hatte, | |
dass einige seiner besten Freunde auf dem Platz von den Schlägern Mubaraks | |
verletzt worden waren. Der Arzt tat das Ganze als Spinnerei seiner Kinder | |
ab. "Ich bin vollkommen unpolitisch und bin mein ganzes Leben immer nur | |
zwischen meinem Zuhause und dem Krankenhaus hin- und hergewandert", sagte | |
Hilmi. | |
Dann habe er einen Anruf seiner Tochter bekommen, er solle sofort zum | |
Tahrir kommen, es gebe dort zu viele Verletzte, er werde dringend | |
gebraucht. Wohl mehr aus Sorge um seine Tochter stellte er in kleines Team | |
zusammen und machte sich auf den Weg. Er sollte den Tahrir-Platz und das | |
dort improvisierte Krankenhaus nicht mehr verlassen. | |
Dann erzählte der Arzt in der Talkshow von einem 14-jährigen Jungen auf dem | |
Platz. Er sei mit einer großen Platzwunde quer über das Gesicht zum | |
"Krankenhaus" gebracht worden. Er habe die Wunde genäht und wollte gerade | |
eine Verband auflegen, da sei der Junge bereits davongelaufen. Er müsse den | |
Tahrir-Platz verteidigen, rief er noch. Dann stockt Hilmi, ihm kommen die | |
Tränen. Es dauert ein paar Minuten, bis er sich wieder fasst, um die | |
Fortsetzung der Geschichte doch noch erzählen zu können. "Ich habe den | |
Jungen kurz darauf noch einmal gesehen", setzt er an, stockt erneut. "Sie | |
haben ihn noch einmal gebracht". Der Arzt ringt sichtlich mit sich, bevor | |
er den letzten Satz herausbringt: "Mit einer Kugel im Kopf." | |
Es gibt keine offiziellen Angaben zu Einschaltquoten im arabischen | |
Fernsehprogramme. Aber diese Talkshow und der Arzt wurden zu Legende. Am | |
nächsten Tag kamen mehr als eine Million Menschen zur größten Demonstration | |
auf den Tahrir-Platz. Das war am Dienstag. Vier Tage später trat Mubarak | |
Amt zurück. | |
14 Feb 2011 | |
## AUTOREN | |
Karim Gawhary | |
Karim El-Gawhary | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Journalismus in Ägypten: Heute machen wir alle Kampftraining | |
Die Journalistinnen Nora Younis und Shaimaa Adel sprechen über die | |
Revolution, Zensur, die Muslimbrüder und Vorurteile von Kollegen aus dem | |
Westen. | |
Revolution in Ägypten: Neue Verfassung ist auf dem Weg | |
Der ägyptische Militärrat hat ein Komitee ernannt, das eine neue Verfassung | |
ausarbeiten soll. Unterdessen sollen die europäsischen Konten des alten | |
Regimes gesperrt werden. | |
Berliner Araber über Ägypten: Revolution im Hähnchen-Grill | |
In vielen arabischen Ländern wird derzeit protestiert. Was denken Araber in | |
Deutschland eigentlich darüber? Ein Stimmungsbild aus Berlins „City | |
Chicken“. | |
Revolution in Ägypten: Polizisten wollen mehr Geld | |
In Kairo gehen Staatsangestellte für mehr Lohn auf die Straße. Die | |
Bundesregierung kündigte Hilfe für den Wechsel zur Demokratie an. | |
Ex-Präsident Mubarak soll noch in Ägypten sein. | |
Revolutionen in Arabien: Und al-Dschasira sendet... | |
Kaum ein Sender berichtete so umfassend und ausdauernd über die Revolte in | |
Ägypten wie "al-Dschasira". Sein Rezept: die Symbiose zwischen Publikum und | |
Sender. | |
Reaktionen in Ramallah: Gemischte Gefühle über Mubaraks Sturz | |
Der palästinensischen Führung ist mit Mubarak der wichtigste arabische | |
Verbündete abhanden gekommen. In Ramallah erwartet aber niemand große | |
Veränderungen. | |
Ägypten nach Mubaraks Sturz: Platz der Freiheit frei geräumt | |
Soldaten haben am Sonntag alle Demonstranten vom Kairoer Tahrir-Platz | |
gedrängt. Noch gibt es keinen Zeitplan für einen Übergang zur Demokratie, | |
und das Militär lässt die Minister im Amt. | |
Revolution in Ägypten: Der schönste Tag ihres Lebens | |
Tags zuvor wollte Mubarak noch bleiben. Doch das Volk reagierte mit | |
weiteren Massenprotesten. Millionen gingen auf die Straße und erzwangen | |
seinen Rücktritt. Jetzt feiern sie ihre Revolution. |