# taz.de -- Freie Presse in Libyen: Der alte Traum ist wahr geworden | |
> In Bengasi haben sich die ersten unabhängigen Medien gegründet. Die | |
> Tageszeitung "Freies Libyen" und ein Radioprogramm leben dabei vom | |
> Enthusiasmus der Menschen. | |
Bild: Kämpferische Gaddafi-Gegner im befreiten Bengasi. | |
BENGASI taz | Eine Revolution will auch ihre Bürokratie haben. Und so gibt | |
es nun das "Pressezentrum der Revolution der Jugend des 17. Februar", | |
direkt am Platz des Gerichts im Zentrum Bengasis gelegen. Gegen Vorlage | |
eines Passes und eines internationalen Presseausweises werden die ersten | |
Presseausweise des befreiten Libyen ausgehändigt. Natürlich darf der | |
rot-schwarz-grüne Streifen nicht fehlen, die Farben der Revolution. Daneben | |
lächelt der antikoloniale Volksheld Omar Mukhtar den ausländischen | |
Journalisten an. | |
Die libysche Revolution hat noch keine Köpfe und will sie vielleicht auch | |
gar nicht haben und präsentieren. Wie in Ägypten und Tunesien reagiert man | |
auch hier nach vier Jahrzehnten Gaddafi allergisch auf politische | |
Personenkulte. Also muss der alte Omar Mukhtar als Gesicht der Revolution | |
herhalten, der einst den Aufstand gegen die italienischen Kolonialherren | |
angeführt hatte. | |
Während die ausländischen Journalisten mit den ersten revolutionären | |
Dokumenten ausgerüstet werden, hat auch die Arbeit der lokalen Journalisten | |
begonnen. In einen Raum neben dem neuen Pressezentrum befindet sich die | |
Redaktion der ersten unzensierten arabischen libyschen Tageszeitung mit dem | |
Namen Freies Libyen. Der Raum, halb so groß wie eine Schulklasse, ist | |
vollgestopft mit Tischen, Laptops und vor allem eifrig arbeitenden | |
Menschen. | |
Immerhin 62 freiwillige Mitarbeiter hat das Projekt, das im Moment am Ende | |
des Tages 5.000 Exemplare herausbringt. Heute ist die fünfte Ausgabe | |
herausgekommen; mit ihren großen Buchstaben, den vielen Fotos, gedruckt auf | |
dickem Papier, wirkt sie noch eher wie eine Schülerzeitung. Das Marketing | |
ist einfach: Das Blatt wird einfach ein paar Schritte weiter entfernt auf | |
dem Platz des Gerichts verteilt, der sich in der vergangenen Woche, wie in | |
Ägypten der Tahrir-Platz, in Bengasi zum Zentrum der Revolution gewandelt | |
hat. | |
Schon an den Gaddafi-Karikaturen an der Wand des Redaktionsraums sieht man | |
sofort, dass neue Zeiten angebrochen sind. "Bla, bla, bla", sagt ein | |
derangiert gezeichneter Gaddafi, Schluss mit den Lügen fordert ein | |
jugendlicher, smart dreinblickender Zuhörer. | |
## Kostenloser Druck | |
In der Ecke des Raums, dem einzigen Ort, wo man Platz findet, steht der | |
Chefredakteur Mohammed al-Munifi. Er hat heute wenig Zeit, seine Zeitung zu | |
leiten, da er ständig den ausländischen Journalisten, die vom Nebenraum, | |
dem Pressezentrum, zu ihm kommen, Rede und Antwort stehen muss. "Als | |
Gaddafis Truppen verschwunden waren, hatte ich das Gefühl, die Sonne geht | |
auf, und ich habe mit Freunden sofort mit dieser Zeitung begonnen", erzählt | |
er. Das sei ein alter Traum von ihm gewesen, einmal in Libyen eine freie | |
Zeitung herauszugeben. | |
Unterstützung bekommt er von vielen Seiten. "Es gibt sieben Druckereien, | |
die wünschen, dass sie unsere Zeitung unentgeltlich drucken dürfen", sagt | |
er. Leute kämen und sagen, sie seien bereit, ohne Lohn zu arbeiten, und | |
reiche Leute spendeten Geld, erklärt er das Finanzmodell der Zeitung. "Da | |
merkt man, wie wichtig den Leuten in Bengasi diese Zeitung ist", schließt | |
al-Munifi. | |
Ein paar Kilometer weiter, die Küstenstraße entlang Richtung Osten, | |
befinden sich die Lagerhalle und ein Sendemast des ehemaligen staatlichen | |
Radios von Gaddafi. Eine Gruppe übergelaufener Soldaten bittet den Besucher | |
freundlich herein in die neue Zentrale von Radio Freies Libyen. Das Studio | |
drinnen ist noch sehr einfach eingerichtet: In einem nicht schallgedämpften | |
Büro hat man auf den Schreibtischen ein paar Mikrofone aufgebaut. Dort | |
sitzen eine Moderatorin, ein Moderator und zwei Techniker, die immer mal | |
wieder rufen, dass doch endlich jemand die Tür zumachen solle. Denn draußen | |
auf dem Gang wird heftig diskutiert. | |
Der Enthusiasmus der Mitarbeiter ist mehr wert als die bescheidene | |
Ausrüstung. Man habe keine Zeit gehabt, hier groß etwas aufzubauen, sie | |
wollten einfach nur anfangen in dem Moment, als Bengasi einigermaßen sicher | |
und die Truppen Gaddafis vertrieben waren. Sie hat zwar zwei Töchter im | |
Teenageralter, aber sie wolle gar nicht mehr nach Hause gehen, so sehr | |
genießt sie ihre neue Freiheit, sich ohne Zensur ausdrücken zu können", | |
erzählt die Radioredakteurin Amina Luheischa, die zuvor 23 lange Jahre beim | |
staatlichen Radio gearbeitet hat. "Heute Morgen, als ich hierhergefahren | |
bin, habe ich im Auto geheult, weil ich es einfach immer noch nicht fassen | |
kann", erzählt sie. | |
Als Nachrichtenredakteurin zu Gaddafis Zeiten gab es nur rote Linien, und | |
alles war verboten. Wenn nach der Sendung das Telefon klingelte, sind sie | |
alle zusammengezuckt, blickt sie zurück. Jeder Fehler in den Augen Gaddafis | |
wurde geahndet. Als einmal ein Kameramann Gaddafi sehr unvorteilhaft | |
abgelichtet hatte, war einfach allen Mitarbeitern des staatlichen | |
Fernsehens und Rundfunks für drei Monate der Lohn gestrichen worden, | |
erzählt sie. Es war in den letzten Wochen auch unmöglich gewesen, über die | |
Revolutionen im benachbarten Ägypten und Tunesien zu informieren. "Wir | |
mussten immer nur vom angeblichen Chaos berichten", schildert Luheischa. | |
## Tränen der Scham | |
Die Frage, ob sie in ihrem Kopf überhaupt mit der Veränderung mitkommt, | |
bringt sie aus der Fassung. Ihre Stimme bricht. "Wenn ich heute daran | |
denke, dass ich so Sätze geschrieben habe wie ,Muammar Gaddafi, der | |
großartigste Führer Afrikas', wird mir ganz schlecht." Sie schreibt den | |
Satz noch einmal auf ein Papier, blickt darauf. Eine Träne kullert über ihr | |
Gesicht. "Ich wünschte ich könnte die ganze Zeit meines Publizistikstudiums | |
und meiner 23-jährigen Arbeit als Redakteurin unter Gaddafi wegwaschen", | |
sagt sie und macht eine Geste, als wolle sie ihr Gesicht waschen. | |
Ein anderer Ort der Erinnerung, als Gaddafis Truppen noch Bengasi | |
kontrollierten, liegt ein paar Kilometer von der Radiostation entfernt, in | |
der Nähe des Stadtzentrums. "Al-Katiba" nennen die Libyer bis heute noch | |
ehrfürchtig diesen Ort, "die Militäreinheit". Hier hatte die letzte | |
Schlacht um die Stadt stattgefunden. Heute ist die Kaserne ein Ausflugsort. | |
Besonders gefragt ist ein Besuch der unterirdischen Gefängnisse. Zu | |
Hunderten pilgern die Menschen von Bengasi dorthin. Sie hatten zuvor keine | |
Ahnung, dass sie existierten. Durch eine schwere Stahltür und eine Treppe | |
runter steht man in dem geheimen Verlies. Licht kommt aus der Öffnung, die | |
die Männer in den Beton hineingeschlagen hatten, als sie die Gefangenen | |
dort gehört und gefunden hatten. "Das war der Ort hinter der Sonne", | |
flüstert einer der Besucher. | |
Draußen auf dem Parkplatz der Kaserne herrscht buntes Treiben. Die meisten | |
Libyer erschließen sich das elf Hektar große Gebiet der Kaserne per Auto. | |
Oft, indem sie aus den Fenstern die schwarz-rot-grüne Fahne schwenken, mit | |
drei, vier Kindern auf dem Schoß und hupen. Suliman al-Aguri geht das Ganze | |
ruhig an. Er hat den Motor seines Autos abgestellt und blickt versonnen | |
durch die Windschutzscheibe. Er möchte sich die grausamen Gefängnisse gar | |
nicht ansehen, er sei einfach nur gekommen, um an diesem Ort zu sein und | |
nachzudenken, sagt der Ölingenieur. Er arbeitet auf einem Ölfeld, 250 | |
Kilometer von Bengasi entfernt. Vor einem Monat ist er zu seiner Schicht | |
dorthin gefahren. Er hatte ein Bengasi fest in den Händen Gaddafis | |
zurückgelassen und ist erst heute wieder in seine völlig veränderte Stadt | |
zurückgekommen. | |
Als er durch die Wüste hierhergefahren ist, habe es stark geregnet, überall | |
schossen gelbe Blumen aus dem Sand, beschreibt er. "Ich habe angehalten, | |
mir angesehen wie die Wüste blüht, und gedacht, mein Gott, Gaddafi ist weg. | |
In diesem Moment", sagt er, "war ich sicher der glücklichste Mensch der | |
Welt". | |
2 Mar 2011 | |
## AUTOREN | |
Karim Gawhary | |
Karim El-Gawhary | |
## TAGS | |
taz.lab 2011 „Die Revolution haben wir uns anders vorgestellt“ | |
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