# taz.de -- Streit um Tarifeinheit: In Gegnerschaft geeint | |
> Arbeitgeber und DGB wollen, dass in Betrieben nur eine Gewerkschaft das | |
> Sagen haben soll. Das gilt auch beim für diese Woche angekündigten | |
> Lokführerstreik. | |
Bild: "Ansage beachten": Das gilt auch für Gewerkschaften und Streikende. | |
Selten waren sie so einig: Als im Juni 2010 das Bundesarbeitsgericht (BAG) | |
in Erfurt die Tarifeinheit kippte, zauberten die Bundesvereinigung der | |
Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und die Spitze des Deutschen | |
Gewerkschaftsbund (DGB) noch am selben Tag ein Papier aus der Schublade. | |
Darin forderten sie die Bundesregierung auf, das Prinzip "ein Betrieb - | |
eine Gewerkschaft" wiederherzustellen. | |
Seither liegen Berufsgewerkschaften wie der Marburger Bund, die | |
Lokführergewerkschaft GDL oder die Vereinigung der Flugkapitäne Cockpit mit | |
dem DGB über Kreuz. "BDA und DGB wollen ihr Machtkartell in der | |
Tarifpolitik erhalten, der DGB sagt uns den Kampf an", sagt Rudolf Henke, | |
Vorsitzender des Marburger Bunds. Bei der Ärztegewerkschaft befürchtet man, | |
auf die Bedeutungslosigkeit geschrumpft zu werden. Der DGB wolle sie daran | |
hindern, künftig Tarifverträge abzuschließen, sagt Henke. | |
Es sind schwerwiegende Vorwürfe. Allerdings sind es auch weitreichende | |
Forderungen, die BDA und DGB an den Gesetzgeber gerichtet haben. Er soll | |
per Gesetz festlegen, dass in einem Betrieb, in dem mehrere Tarifverträge | |
unterschiedlicher Gewerkschaften miteinander konkurrieren, nur der Vertrag | |
gilt, dessen Gewerkschaft dort auch die meisten Mitglieder hat. Zudem - ein | |
Novum - soll die unterlegene Gewerkschaft während der Laufzeit des fremden | |
Tarifvertrags nicht streiken dürfen. | |
Dabei ist der Grundsatz "ein Betrieb - ein Tarifvertrag" unter | |
Arbeitsrechtlern seit langem umstritten. Das BAG hat ihn vor Jahren in | |
seiner gegossen worden wäre Rechtsprechung entwickelt, ohne dass er jemals | |
in ein konkretes Gesetz. Im letzten Sommer rückten auch die Richter am BAG | |
vom Grundsatz ab. In der Praxis gibt es die Tarifpluralität: So existieren | |
in Krankenhäusern Tarifverträge von Ver.di für die Krankenschwestern und | |
solche des Marburger Bundes für die Ärzte nebeneinander. | |
## Arbeitgeber wollen maximale Ruhe im Betrieb | |
BDA und DGB ist diese Pluralität ein Dorn im Auge. Die Arbeitgeber wollen | |
maximale Ruhe im Betrieb und mit möglichst wenigen und verlässlich | |
einschätzbaren Tarifpartnern verhandeln. Selbstbewusste Tarifforderungen, | |
wie aktuell von der GDL, sind da ein Graus. Der für diese Woche | |
angekündigte Lokführerstreik, heißt es, wird sich auf den Güterverkehr | |
konzentrieren. | |
Die GDL will einheitliche Tarifbedingungen für rund 26.000 Lokführer auf | |
dem Niveau der Deutschen Bahn (DB) durchsetzen. Die DB-Konkurrenten | |
beschäftigen ihre Lokführer derzeit zu schlechteren Konditionen. Die | |
GDL-Forderungen führen auch die DGB-Gewerkschaften vor, die seit Jahren mit | |
Mitgliederverlusten kämpfen und gut qualifizierte Arbeitnehmer wie Ärzte, | |
Lokführer oder Flugkapitäne in Scharen an die Konkurrenz verloren haben. | |
Doch was durch ein paar Absätze im Gesetzbuch festzuschreiben wäre, zieht | |
viele neue Probleme und verfassungsrechtlich schwerwiegende Bedenken nach | |
sich. Und könnte vor allem für den DGB problematisch werden. Dann nämlich, | |
wenn das Bundesverfassungsgericht eine neu verankerte Tarifeinheit wieder | |
kippt, weil ein partielles Streikverbot gegen das im Grundgesetz | |
festgeschriebene Recht auf Koalitions- und Streikfreiheit verstößt, das für | |
"jedermann und für alle Berufe" gilt. | |
Auch in den zuständigen Ministerien ist man sich bewusst, wie komplex das | |
Ganze ist. Zwar signalisierte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kurz nach | |
dem Richterspruch ihre Sympathien für den BDA-DGB-Vorstoß. Doch seit | |
Monaten überlegen die Experten, ob und wie der Gesetzgeber eingreifen soll. | |
Auch im DGB gibt es massiven Widerstand. Im Mitgliedernetz von Ver.di tobte | |
eine Diskussion über das "unsolidarische" und vorab mit keinem Wort | |
kommunizierte Vorgehen des DGB. Der Vorstoß sei ein "gefährlicher Weg". Aus | |
"reinem Machtkalkül" wolle der DGB gemeinsam mit den Arbeitgebern das | |
Streikrecht reglementieren. Manch einer warnt, dass Ver.di selbst als | |
mitgliederschwächere Gewerkschaft künftig dazu verdammt sein könnte, | |
Tarifverträge von arbeitgeberfreundlichen Gewerkschaften zu akzeptieren, | |
beispielsweise bei den sozialen Diensten. Aus den Bezirken, Regionen und | |
Fachbereichen von Ver.di hagelte es Anträge, die Initiative abzublasen. | |
## Englische Verhältnisse: Pausenlose Streiks | |
"Wir haben die Sache zu spät und völlig unzureichend in die Gewerkschaften | |
kommuniziert", sagt Christoph Schmitz, Sprecher von Ver.di-Chef Frank | |
Bsirske. Doch im Grundsatz stehe man zur Initiative. Schmitz beschreibt, | |
wie die Arbeitgeber, Schreckensszenarien von englischen Verhältnissen: | |
Pausenlose Streiks von immer mehr Splittergewerkschaften. "Wenn die | |
Tarifvielfalt ausufert, kämen die politischen Angriffe auf das Streikrecht | |
viel schneller, als wir uns das ausmalen können." | |
Dabei bezweifeln Arbeitsrechts- und Gewerkschaftsexperten, dass mit der | |
gekippten Tarifeinheit plötzlich allerorts neue Berufsgewerkschaften | |
entstehen oder mehr gestreikt würde. Die Hürden für Gewerkschaftsgründungen | |
liegen einigermaßen hoch. Und um die Streikfreude ist es traditionell nicht | |
gut bestellt: Deutschland liegt mit fünf durchschnittlichen Streiktagen | |
zwischen 2000 und 2008 je 1.000 Arbeitnehmer noch hinter den USA mit 30 | |
Tagen. Für Schmitz ist die Tarifeinheit aber auch ein Grundwert an sich. | |
Arbeitnehmer in stärkeren Positionen, wie Fluglotsen oder Ärzte, müssten | |
für Schwächere solidarisch einstehen. Das ginge nur unter einem Dach. | |
Der Idee kann auch der renommierte Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler viel | |
abgewinnen. Trotzdem hält er den Vorstoß von BDA und DGB für "fatal": "Man | |
will die Berufsgewerkschaften, die viel erreicht haben, kleinbekommen." | |
Solidarität aber sei nur politisch untereinander herzustellen, nicht durch | |
administrative Verfügungen. Däubler betont die positiven Effekte der | |
Berufsgewerkschaften: "Den Kitastreik von Ver.di hätte es ohne die | |
Vorarbeit des Ärztestreiks vom Marburger Bund vielleicht gar nicht | |
gegeben." | |
Auch Gewerkschaftsforscher Heiner Dribbusch sagt, das tarifpolitische | |
Signal, das von Abschlüssen des Marburger Bunds, von Cockpit oder der GDL | |
ausgehe, "erschwert eher die Erosion von Tarifstandards nach unten". | |
## "Massiver Eingriff in Koalitionsfreiheit" | |
Däubler hat in einem 60-seitigen Gutachten akribisch die komplexen Folgen | |
des Vorstoßes analysiert. Er schaffe zahlreiche Rechtsunsicherheiten, | |
bürokratischen Aufwand, könne für einige Beschäftigtengruppen zu | |
"tariffreien Zonen" führen und zur Erosion des Flächentarifvertrags | |
beitragen. Da es problematisch wäre, ad hoc festzustellen, wer im Betrieb | |
die meisten Gewerkschaftsmitglieder hat, könnten verunsicherte Arbeitnehmer | |
sogar noch häufiger auf Streiks verzichten. Die Idee, die Tarifeinheit | |
gesetzlich festzuschreiben, sei keine "Ausgestaltung von Grundrechten, | |
sondern ein massiver Eingriff in die Koalitionsfreiheit", resümiert | |
Däubler. Dies würde sowohl gegen das Grundgesetz wie auch den Artikel 11 | |
der Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen. | |
Dribbusch moniert, dass der DGB in der Initiative nur die höheren | |
Lohnforderungen durch die Berufsgewerkschaften kritisiere, nicht aber die | |
Lohndrückerei durch arbeitgeberfreundliche Gewerkschaften. Dabei sei die | |
wesentlich relevanter. Paradoxerweise gräbt das BAG-Urteil, das der DGB | |
bekämpft, Lohndumpinggewerkschaften das Wasser ab: Jetzt ist es nicht mehr | |
möglich, dass der speziellere Haustarifvertrag einer | |
arbeitgeberfreundlichen Gewerkschaft den Flächentarifvertrag einer | |
DGB-Gewerkschaft aushebelt. | |
Die Spitzen der DGB-Einzelgewerkschaften stehen offiziell geschlossen | |
hinter dem Vorschlag. Doch hinter vorgehaltener Hand redet so manch einer | |
an der Spitze der IG Metall von einem Desaster. Klar ist: Wenn Karlsruhe | |
eine neu eingeführte Tarifeinheit wegen des Eingriffs in die Koalitions- | |
und Streikfreiheit wieder kippt, wäre das für die Gewerkschaften ein | |
beachtlicher Imageschaden. | |
8 Mar 2011 | |
## AUTOREN | |
Eva Völpel | |
## TAGS | |
Tarifeinheit | |
Berufsgewerkschaften | |
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