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# taz.de -- Kritik an Kinderporno-Regelung: "Jugendliche sind keine Kinder"
> Deutsche Sexualwissenschaftler kritisieren die geplante
> Kinderporno-Richtlinie der EU. Anstatt missbrauchten Kindern zu helfen,
> würde sie Probleme sogar verschlimmern.
Bild: Verschwindet der Filmklassiker "Eis am Stiel" bald aus den Videotheken?
Eine Horrorvision staatlicher Willkür: „Die Blechtrommel“, der erste mit
einem Oscar bedachte deutsche Spielfilm, wird verboten, schon der Besitz
steht unter Strafe. Teenie-Komödien wie "American Pie" oder „Eis am Stil“
verschwinden aus den Kinos und Videotheken. Selbst der neueste
Harry-Potter-Film wird wegen simulierten Sex zwischen Minderjährigen zum
Fall für den Staatsanwalt.
Mit diesem Szenario versuchen sechs sexualwissenschaftliche Gesellschaften
Einfluss auf neue EU-Regelungen zu nehmen. Die „Richtlinie zur Bekämpfung
des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie
der Kinderpornografie“ wird derzeit [1][im Europäischen Parlament
verhandelt].
Für viel Aufsehen sorgte das [2][Ansinnen der EU- Kommissarin Cecilia
Malmström], Netzsperren gegen kinderpornografische Seiten verpflichtend zu
machen. Dieser Plan scheint mittlerweile vom Tisch – die EU-Staaten sollen
selbst entscheiden, ob sie die Sperren realisieren oder nicht.
Bis 18 Jahre Kind
Die Sexualwissenschaftler reiben sich an einem anderen Punkt. Die Kernfrage
ist: Wer ist ein Kind? „Jugendliche und junge Erwachsene sind keine
Kinder“, heißt deshalb eine [3][gemeinsame Erklärung], die von insgesamt
sechs Berufsorganisationen verabschiedet wurde, darunter die Deutsche
Gesellschaft für Sexualforschung und die Gesellschaft für
Sexualwissenschaft.
Das Schutzalter bestimmt nicht nur, wer auf welche staatliche Hilfe
Anrechte hat, sondern definiert auch das erlaubte Maß an Eigenständigkeit.
So können Minderjährige in vielen Staaten zwar legal Geschlechtsverkehr
haben, jedoch keine Nacktbilder von sich anfertigen oder weitergeben.
Gesetze, die Minderjährige gegen Missbrauch schützen sollten, richten sich
plötzlich gegen sie selbst. So wurden in den USA bereits mehrere Teenager
verurteilt, weil sie Bilder von sich selbst verbreitet hatten.
In Europa sollen nach Verabschiedung der Richtlinie in allen Ländern
Strafgesetze angeglichen werden. Insbesondere die „Verwendung von
Informations- und Kommunikationstechnologie“ soll in die Gesetze
aufgenommen werden. Ziel sind unter anderem Erwachsene, die Kinder über
Internet-Chats zu sexuellen Handlungen auffordern. Die Sexualforscher
zweifeln am Erfolg der Maßnahmen. „Statt alle Kräfte auf die Bekämpfung
wirklicher Kinderpornografie zu konzentrieren, greift die überbordende
Kriminalisierung tief in die Lebensrealität und Selbstbestimmung junger,
sogar erwachsener Menschen ein“, heißt es in der Erklärung.
So habe die EU-Kommission im Bemühen um eine Angleichung der
Strafrechtsbestände in ganz Europa wichtige Ausnahmeregeln über Bord
geworfen. Auch das Schutzalter wurde auf den größten gemeinsamen Nenner
festgesetzt, nämlich 18 Jahre. Befürworter der Richtlinie erklären, nur mit
einem formal hohen Schutzalter sei eine Einigung auf europäischer Ebene
überhaupt möglich gewesen.
Im Bemühen, keine Schlupflöcher für Kinderpornografie offen zu lassen, will
die EU-Kommission die Definition des Begriffs ausweiten. Dabei spielt es
formal keine Rolle, ob es bei dem Material um einen echten Kindesmissbrauch
geht oder um gebräuchliche Pornografie mit erwachsenen Darstellern –
kriminalisiert wird alles, das auch nur den Anschein erwecken könnte, dass
Jugendliche und Kinder Sex haben. Wie die Umsetzung konkret aussehen
könnte, ist aber offen.
In Deutschland ist Jugendpornografie schon seit 2008 Straftatbestand. Die
Vorschrift wird von deutschen Ermittlern aber bisher nur sehr selten
eingesetzt. Obwohl auch „Jugendanscheinspornografie“ illegal ist, kann
Harry Potter unbehelligt in deutschen Kinos laufen, auch die Tausende von
Porno-Seiten, die mit jugendlich wirkenden Darstellern Kasse machen, werden
noch nicht verfolgt.
Polizeistatistik und Realität
Das Urteil der Sexualwissenschaftler ist harsch: Obwohl in der Richtlinie
einige richtige und wichtige Maßnahmen vorgesehen seien, konzentriere sich
die Kommission auf „Symbolpolitik und Populismus“. Grund dafür sei auch
eine unzureichende Problemdiagnose. Zwar wiesen die Polizeistatistiken
steigende Missbrauchszahlen auf – das spiegele aber nicht unbedingt die
Realität wieder. „Ignoriert wird die kriminologische Erkenntnis, dass die
bisher gemessene Zunahme ausschließlich auf der gesteigerten
gesellschaftlichen Beachtung des Problems und entsprechender
Anzeigebereitschaft beruht“, heißt es in der Erklärung.
Mit der falschen Kerndiagnose scheitere die Kommission auch daran,
geeignete Gegenmaßnahmen zu ergreifen, die den Opfern sexuellen Missbrauchs
tatsächlich helfen: „Falsch ist vor allem die Grundannahme, schlichte
Strafschärfungen würden stärker abschrecken“, schreiben die
Wissenschaftler. In der Tat ist die [4][Begründung der Richtlinie] denkbar
vage: „Obwohl zu diesen Straftaten keine präzisen und zuverlässigen
Statistiken vorliegen, hat es einschlägigen Studien zufolge den Anschein,
dass eine nicht unerhebliche Minderheit von Kindern in Europa während ihrer
Kindheit sexuellen Übergriffen ausgesetzt ist“. Forschungsarbeiten ließen
darauf schließen, dass bestimmte Formen sexueller Gewalt „eher zunehmen“
würden.
Die Sexualwissenschaftler appellieren nun an das Euopaparlament, gegen die
in ihren Augen überbordenden Regelungen der Richtlinie Einwände zu erheben
und so den Kampf gegen Kindesmissbrauch effektiver zu gestalten. „In allen
Mitgliedstaaten kommt es dabei entscheidend auf den Gesetzesvollzug durch
Jugendschutz- und Sozialbehörden, Polizei und Justiz an.“ Diese seien im
Zweifel nicht von der EU steuerbar.
11 Mar 2011
## LINKS
[1] /1/netz/netzpolitik/artikel/1/nur-das-parlament-kann-sie-stoppen/
[2] /1/politik/schwerpunkt-ueberwachung/artikel/1/aus-zensursula-wird-censilia/
[3] http://www.sexualwissenschaft.org/news/07032011.html
[4] http://www.europarl.europa.eu/meetdocs/2009_2014/documents/com/com_com(2010…
## AUTOREN
Torsten Kleinz
Torsten Kleinz
## TAGS
Schwerpunkt Frankreich
Kinderpornografie
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