# taz.de -- Antworten nach Atomunfall in Japan: Harrisburg. Tschernobyl. Fukush… | |
> Was ist eine Kernschmelze? Ist die Katastrophe mit Tschernobyl | |
> vergleichbar? Wie wichtig wird jetzt das Wetter? Fünf Fragen, fünf | |
> Antworten. | |
Bild: Reaktorruine in Tschernobyl. Mit dem Super-GAU von 1986 ist die Situation… | |
Was können die Japaner gegen den GAU tun? | |
Wie kühlt man einen Reaktorkern, dessen Notstrompumpen von einer | |
schlammigen Tsunamiwelle überschwemmt wurden? Dafür gibt es keinerlei | |
Erfahrungen. Durch den kompletten oder teilweisen Ausfall der Kühlung | |
steigt der Druck in allen betroffenen Reaktoren. Der Druck im durch die | |
Explosion bekannt gewordenen Reaktor Fukushima-Daiichi 1 etwa war durch das | |
Hochheizen doppelt so hoch wie normal. | |
Ab dieser Größenordnung wird es kritisch. Der Reaktorbehälter droht ebenso | |
zu platzen wie Rohre, die mit ihm verbunden sind. Die gesamte Umgebung wird | |
verseucht. Erste Notmaßnahme: den kochenden radioaktiven Dampf im | |
Reaktorkern in die Umgebung ablassen, bis der Druck unter den kritischen | |
Wert sinkt. Das verseucht die Umgebung ebenfalls, aber weit weniger. | |
Das Problem: Durch das Ablassen nach außen gibt es innen immer weniger | |
Kühlwasser. Der "Kühlmittelpegel" sinkt, der Reaktor heizt sich also immer | |
schneller hoch, der Kern droht erst recht zu schmelzen. Frischwasser muss | |
hinein. Allerdings funktionieren ja die dafür vorgesehenen Pumpen ebenso | |
wenig wie die vom Tsunami überschwemmten Steuercomputer. Also müssen | |
Hochdruckpumpen von außen mit dem Reaktorrohrsystem verbunden werden. Ob | |
dafür Anschlüsse vorgesehen sind, ist nicht bekannt. Auch nicht, ob die | |
Wasserversorgung funktioniert. Und ist erst einmal dreckiges und | |
salzhaltiges Meerwasser im Reaktor, kann man ihn wohl nie wieder benutzen. | |
Reiner Metzger | |
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Was passiert bei einer Kernschmelze? | |
Bei einer Kernschmelze gerät der atomare "Kern" eines Reaktors außer | |
Kontrolle. Das Brennmaterial heizt sich auf, bis es unkontrolliert | |
zusammenschmilzt und sich möglicherweise durch alle Sicherheitsschranken an | |
die Luft und in die Biosphäre frisst. Im Normalbetrieb lassen die heißen | |
Atombrennstäbe Wasser im Reaktorkern, dem Druckbehälter, verdampfen. Der | |
Wasserdampf treibt eine Turbine an und erzeugt Strom. Dafür muss der | |
Reaktor ständig gekühlt werden. | |
Fallen, wie jetzt in Japan, die Kühlsysteme aus, überhitzt sich der | |
Reaktor. Das Wasser verdampft, der Wasserpegel sinkt, und die Hitze im | |
Reaktor kann auf etwa 2.000 Grad Celsius steigen. Bei diesen Temperaturen | |
verformen sich die Metallstäbe der Brennelemente, die den nuklearen | |
Brennstoff halten, zu einem Amalgam aus Uran und Metall. Dieser glühende | |
Klumpen sinkt auf den Boden des Druckbehälters und kann ihn durchschmelzen. | |
Schafft er das, frisst er sich möglicherweise auch durch den Beton der | |
Atomanlage und in den Boden. Die neueste AKW-Bauart, der französische | |
Druckwasserreaktor, hat für diesen Fall ein Auffangbecken unter dem | |
Reaktor. In Japan gibt es nichts Vergleichbares. | |
Falls der schmelzende Kern im AKW Fukushima Daiichi 1 den Druckbehälter | |
sprengen sollte, könnten die radioaktiven Teilchen und Gase aus der | |
Kernschmelze relativ ungehindert in die Atmosphäre gelangen. Die | |
Kernschmelze kann aber auch im Druckbehälter gefangen bleiben – so wie 1979 | |
in Harrisburg. | |
Bernhard Pötter | |
************* | |
Ist es so schlimm wie Tschernobyl? | |
Bisher hat die japanische Katastrophe wenig Ähnlichkeit mit der von | |
Tschernobyl. Dort ging 1986 ein Reaktor in vollem Betrieb in die | |
Kettenreaktion, mit seinem ganzen Potenzial von 1.000 Megawatt – damit kann | |
man eine Großstadt versorgen. Dieses Potenzial wurde binnen Sekunden in | |
einer Riesenexplosion freigesetzt. Im Reaktorblock Tschernobyl 4 wurden die | |
für die Kettenreaktion nötigen Neutronen auch nicht wie bei fast allen | |
anderen Reaktortypen durch Wasser gebremst, sondern durch die | |
Kohlenstoffverbindung Grafit. Dieses brennende Grafit behinderte die | |
Katastrophenhelfer zusätzlich zur Strahlung. | |
Die Reaktoren in Fukushima sind abgeschaltet und glühen nun mit einer | |
Leistung von vielleicht einem Dutzend Megawatt nach – offizielle Angaben | |
gibt es nicht. Auch so kann sich erheblicher Druck im Reaktor aufbauen. | |
Wenn er dann explodiert, wird die nähere Umgebung verstrahlt, potenziell | |
sogar ähnlich stark wie die Zone um Tschernobyl. Aber der Fallout reicht | |
nicht bis in die obere Atmosphäre und verteilt sich auch nicht über die | |
Kontinente. Es sind höchstens hunderte Kilometer. | |
Dies hilft den Anwohnern allerdings wenig. Der atomkritische Trinationale | |
Atomschutzverband aus der Schweiz rechnet vor: In einem AKW, egal ob | |
Siedewasser- oder Druckwasserreaktor, wird pro Megawatt elektrische | |
Leistung jährlich etwa die Radioaktivität einer Hiroshima-Bombe erzeugt. | |
Die drei kritischsten japanischen Fukushima-Reaktoren haben eine gemeinsame | |
Leistung von über 2.000 Megawatt. Also produzierten sie die kurz- und | |
langlebige Radioaktivität von gut 2.000 Hiroshima-Bomben. Pro Betriebsjahr. | |
Darüber hinaus sammeln Reaktoren in ihrem Inneren radioaktives Inventar aus | |
mehreren Jahren an. Im Fall einer Explosion drohen also enorme Schäden. | |
Reiner Metzger | |
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Wie wichtig wird jetzt das Wetter? | |
Der Wetterbericht für das Katastrophengebiet: sonnig, 16 Grad, leichter | |
Wind aus westlichen Richtungen. Das hieße: Der Wind würde eine nukleare | |
Wolke auf den Pazifik treiben. | |
Nach Berechnungen des Deutschen Wetterdienstes würde eine solche Wolke | |
zunächst in südöstlicher Richtung auf den Pazifik gelangen. Dort könnte der | |
Wind auf Südwest drehen, sodass die Wolke vier bis fünf Tage später über | |
den Philippinen ankommen würde. Für weiter entfernte Gebiete, etwa | |
Nordamerika, wäre das gut. Denn je höher die Wolke steigt, desto größer ist | |
ihr Ausbreitungsgebiet. Dass eine nukleare Wolke Mitteleuropa erreicht, ist | |
so gut wie ausgeschlossen. Dafür ist der Weg von mehr als 8.000 Kilometern | |
viel zu weit. | |
Dramatisch könnte es für Japan am Dienstag werden. Denn nördliche Winde | |
werden vorhergesagt. Damit würde eine nukleare Wolke den Großraum Tokio | |
bedrohen. Im weiteren Verlauf der Woche soll der Wind in der Region aus | |
unterschiedlichen Richtungen kommen. Die Folge wäre ein Hin- und Herwallen | |
der Wolke. Sie würde also nicht auf den Pazifik hinausgeweht, sondern die | |
japanische Hauptinsel Honshu verseuchen. | |
Richard Rother | |
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Sind deutsche AKWs sicher vor Stromausfall? | |
Den meisten deutschen AKWs fehlt im Gegensatz zu den jetzt betroffenen | |
japanischen eine wesentliche Sicherheitseinrichtung: die mit Dampf | |
betriebenen Kühlwasserpumpen. Offensichtlich nutzen die Japaner den | |
eigentlich unvorhergesehenen und auch radioaktiven Dampf aus dem | |
unkontrolliert kochenden Reaktor dazu, die Notpumpen ohne Strom zu | |
betreiben. Nur für die Steuerung der Ventile und Pumpen wird in diesem Fall | |
Batteriestrom benötigt. | |
Henrik Paulitz von IPPNW, den Ärzten gegen einen Atomkriegs, sagt: "Das | |
deutsche Atomkraftwerk Biblis B beispielsweise verfügt nicht über eine | |
derartige dampfgetriebene Notkühlpumpe. Und es gibt noch einen weiteren | |
Unterschied: In Biblis B reichen die Batterien zur Steuerung des Kraftwerks | |
nur für größenordnungsmäßig zwei Stunden. Die Batterieversorgung in | |
Fukushima Daiichi hingegen verfügte über eine Kapazität von sechs bis acht | |
Stunden." Bei der Nachkühlung nach einem Notstopp kommt es auf jede Stunde | |
an. Die radioaktiven Spaltprodukte entwickeln anfangs die größte Hitze. | |
Die entscheidende Frage, was deutsche Reaktoren betrifft, ist: Kann es zu | |
einem totalen Stromausfall kommen, kann also das Stromnetz zusammenbrechen | |
und können die Notstromaggregate ausfallen? Dieser "Station Blackout" kam | |
in Deutschland noch nicht vor und ist auch schwer herbeizuführen, weil es | |
in jedem AKW mehrere Stromquellen gibt. In Japan war es die Kombination aus | |
Erdbeben und Tsunami, die dazu geführt hat. In Deutschland räumt man | |
Betriebsfehlern, Flugzeugabstürzen oder Terrorattacken eine höhere | |
Wahrscheinlichkeit ein. | |
Reiner Metzger | |
13 Mar 2011 | |
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