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# taz.de -- Die Folgen von Fukushima: Déjà-vu des Super-GAUs
> Die Atomkatastrophe mobilisiert in Deutschland Tschernobyl-Ängste – statt
> Mitgefühl mit der japanischen Bevölkerung. Die bange Frage in Asien
> lautet: Wohin weht der Wind?
Bild: Wind von Osten! Tagesschau, 1986.
Das erste Statement von Umweltminister Norbert Röttgen (CDU), das im
Fernsehen gesendet wurde, war eine Beruhigungspille für die Deutschen.
Japan sei weit entfernt, verriet Röttgen, es bestehe hierzulande keine
Gefahr. Auch in den vielen Interviews mit eilig mobilisierten Experten
wurde immer wieder gefragt, ob die Strahlenwolke von Fukushima uns in
Europa heimsuchen könne.
Während vor Ort Atomwerker, Sicherheitsbehörden und Katastrophenhelfer
verzweifelt gegen das nukleare Inferno kämpfen, scheint die Unversehrtheit
der heimischen Scholle für manche das wichtigste Thema zu sein. Es verrät
einen erstaunlichen Mangel an Empathie und Menschlichkeit, jetzt nicht zu
fragen, ob weite Teile Japans unbewohnbar werden und ob es gelingt, das
Herausschleudern des verheerenden radioaktiven Inventars aus den
Reaktorruinen zu verhindern, sondern danach, ob in Castrop-Rauxel womöglich
das Risiko steigt.
Deutschland, da hat Röttgen recht, ist viele tausend Kilometer von dem
Unglücksort entfernt. Der Großraum Tokio mit seinen 35 Millionen Einwohnern
liegt dagegen gerade mal gut 200 Kilometer südöstlich von Fukushima. An
eine Evakuierung ist nicht zu denken. Tokio ist, wie viele andere
japanische Städte, direkt bedroht – nicht die norddeutsche Tiefebene.
Vermutlich sind es die Erinnerungen an Tschernobyl, die uns in die Quere
kommen, wo sich doch – ein Déjà-vu des Super-GAUs – die Reaktorkatastrophe
in Japan fast punktgenau 25 Jahre nach der von Tschernobyl ereignet. Die
Jubiläumsartikel zu Tschernobyl sind schon recherchiert, teils auch schon
gedruckt, oder sie liegen in den Schubladen. Vor wenigen Tagen erschien in
der Mitgliederzeitschrift der Ärzte gegen Atom ein langes Interview mit dem
früheren Umweltberater Gorbatschows, Alexej Jablokow. Die Überschrift und
zugleich Jablokows Schlusssatz: "Ein zweites Tschernobyl rückt näher!"
Vergleiche mit Tschernobyl sind zwar, was den emotionalen Schock, was Angst
und Schrecken angeht, durchaus berechtigt, aber die jetzige Situation ist
grundverschieden. Die Informationspolitik in Japan mag beschönigend und
verschleiernd sein, doch wer genau hinhört, weiß, was die Stunde geschlagen
hat. Dank Internet und Pressefreiheit in der westlichen Gesellschaft läuft
diese Katastrophe in Zeitlupe vor unser aller Augen ab. Wir können nicht
wegsehen, wir können der Wucht dieser Ereignisse nicht ausweichen.
In Tschernobyl wurden die Informationen hinter dem Eisernen Vorhang
versteckt und bewusst so lange zurückgehalten, bis schwedische Messstellen
eine erhöhte Radioaktivität festgestellt und Alarm geschlagen hatten.
## Chaotischer Nachrichtensalat
In Fukushima erhalten wir dagegen alle verfügbaren Informationen sehr
schnell und ungeordnet. Es fehlt an Klarheit. Der chaotische
Nachrichtensalat aus Explosionen, Kernschmelzen und Meerwasserkühlung ist
angesichts eines ganzen Rudels außer Kontrolle geratener Reaktoren und des
hektischen Überlebenskampfs der Atomwerker völlig "normal".
In Japan wissen weder Wissenschaftler noch Politiker, weder Atomaufseher
noch Betreiber, was hinter der Betonhülle im stählernen Containment mit dem
glühenden Brei des geschmolzenen Reaktorkerns tatsächlich geschieht. Das
ist fast noch beunruhigender als die Nachrichtensperre von Tschernobyl –
deshalb erinnert Fukushima auch eher an Harrisburg.
Nach der Explosion in Tschernobyl war die radioaktive Wolke über Europa
gezogen und hatte viele Gebiete in Ost und West mit dem strahlenden Fallout
direkt verseucht. Weißrussland und die Ukraine waren am stärksten
betroffen, aber auch Schweden, Finnland, Bayern und Teile Ostdeutschlands.
Wir erinnern uns, wie hierzulande der Salat auf den Äckern verfaulte und
das Gemüse untergepflügt wurde, wie die Hamsterkäufe zunahmen und wie wir
nach der Tagesschau auf die Wettervorhersage starrten, als hinge unser
Leben davon ab. Wind von Osten! Regen! Was können wir überhaupt noch essen!
Eine schwangere Freundin ließ sich ihre Lebensmittel monatelang aus dem
Ausland zuschicken, aß vor allem Honig aus Kanada und studierte die
Becquerel-Listen der Bürgerinitiativen mit verbissener Sorgfalt.
Jetzt sind die Japanerinnen und Japaner, die Indonesier und Malaysier
ebenso der Wetterentwicklung ausgeliefert. Aber noch ist unklar, ob sich
die Kernschmelze tatsächlich durch den Reaktorkessel fressen wird. Noch
weiß niemand, wie viel radioaktive Strahlung diesmal über die Menschheit
kommt. Und egal in welcher Richtung dann der Wind weht: Die freigesetzten
Radionuklide bleiben auf dieser Welt. Für einige tausend Jahre!
## Der Pazifik ist kein Atomklo
Die Hoffnung, der Wind könnte die Wolke aufs Meer und damit aus der
Gefahrenzone treiben, ist zwar verständlich und naheliegend, aber auch ein
wenig naiv. Auch der Pazifik ist kein Atomklo, in dem die strahlende Fracht
für immer verschwinden könnte. Die Strahlung würde dann zwar nicht direkt
die Wohngebiete Japans oder Indonesiens verseuchen. Aber über die
Nahrungskette kämen Cäsium, Strontium und Plutonium wieder zurück.
Die japanische Fischindustrie, die größte weltweit, hätte einen gewaltigen
Schlag zu verdauen. Die Einkaufskörbe der Japanerinnen und Japaner mit
ihrem Pro-Kopf-Verbrauch von 70 Kilo Fisch im Jahr (in Deutschland sind es
15 Kilo) wären von heute auf morgen mit Verbotsschildern und Geigerzählern
umstellt. In Fukushima wird also nicht allein die Windrichtung das Ausmaß
der Verseuchung bestimmen. Entscheidend bleibt die Menge der freigesetzten
Radioaktivität. Ausgehend von dieser Strahlenmenge, ließe sich die Zahl der
Krebstoten und Strahlenopfer aus statistisch-mathematischen Modellen
hochrechnen.
Angesichts der globalisierten Warenströme würden natürlich auch bei uns
verstrahlte Flossentiere auf den Tellern liegen. Sushi und Algen würden von
der Speisekarte verschwinden. Vom japanischen Grüntee, der längst zum
festen Inventar gesundheitsbewussten Lifestyles gehört, gar nicht zu reden.
Dass wir in einer Welt leben, dass die Risikotechnologien
grenzüberschreitend die gesamte Weltgemeinschaft bedrohen, wird mit den
gespenstischen Silhouetten der geborstenen japanischen Reaktoren noch
einmal überdeutlich. Deshalb kann es nicht nur darum gehen, die
Laufzeitverlängerung für deutsche Atomkraftwerke zurückzunehmen. Es geht um
eine weltweite Korrektur der Atomträume, die als Relikt der Atomeuphorie
der Fünfziger Jahre bis heute überdauert haben.
Eine großräumige Verteilung der Strahlenfracht, wie sie auch bei den
oberirdischen Atomtests in den Fünfziger und Sechziger Jahren zu beobachten
war, ist bei einem Atomunfall dieses Ausmaßes unvermeidbar. Insofern hatte
die Atomenergie schon immer globale Ausmaße.
Der Zufall wird dann bestimmen, welche Landstriche stärker betroffen sein
werden und welche glimpflicher davonkommen. Wir in Deutschland haben die
Gnade der Geografie auf unserer Seite. Insofern sollten wir erleichtert
sein und unsere kleinkrämerischen Sorgen in ein Mitgefühl für die
japanischen Opfer verwandeln. Ein ganzes Land kämpft gegen eine
Atomkatastrophe, die selbst Tschernobyl noch in den Schatten stellen
könnte.
14 Mar 2011
## AUTOREN
Manfred Kriener
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