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# taz.de -- AKW-Guide über Tschernobyl: "Die Côte d'Azur ist es nicht"
> Piloten leben gefährlicher als er, sagt AKW-Guide Nikolai Fomin. Den Job
> der Arbeiter an der neuen Schutzhülle würde er aber nicht machen wollen.
Bild: Prypiat, die Stadt der Atomkraftwerker.
taz: Herr Fomin, Sie sind Fremdenführer in der verstrahlten Zone um das
Atomkraftwerk Tschernobyl. Wie kommt man zu so einem Beruf?
Nikolai Fomin: Im vergangenen Jahr habe ich mein Studium an der
Tourismus-Akademie abgeschlossen. Die Tschernobyl-Stelle war im Internet
ausgeschrieben, ich war sofort begeistert.
Warum?
Die Menschheit unternimmt hier in der Gegend einen Langzeitversuch: Was
wird aus einem atomar verseuchten Gebiet, das einst bewohnt war? Wie geht
man damit um? Wie kann man Folgen lindern, wie bekämpfen? An diesem
Experiment selbst in der Sperrzone teilzunehmen hat mich gereizt.
Ist das nicht riskant?
Bergführer leben gefährlicher.
Wie hoch ist die Strahlendosis, die Sie in diesem Jahr bereits abbekommen
haben?
[Fomin holt ein Messgerät aus der Tasche und zeigt es.] 4,4 Millisievert in
diesem Jahr. Das ist ungefähr so viel, wie man bei 20
Interkontinentalflügen abbekommt. Sie sehen also: Piloten, Stewardessen
oder Manager, die die ganze Zeit um die Welt jetten, leben gefährlicher als
ich.
Wer bucht so einen Trip?
Die Tagesreise bucht so ziemlich jede Art von Mensch. Deutlich in der
Überzahl sind aber junge Männer aus dem englischsprachigen Raum, also
Briten, Kanadier, Australier. Im vergangenen Jahr hat unser Reiseinstitut
7.000 Menschen durch die gesperrte Zone begleitet. Im Moment jedenfalls ist
die Nachfrage riesig.
Was bekommen die Kunden denn für ihr Geld?
Die Reise beginnt in der Stadt Tschernobyl: Dort liegt die Strahlung mit 17
Mikrosievert mittlerweile so niedrig wie bei den meisten Leuten zu Hause.
Mit einem VW-Van umfahren wir dann das Kraftwerk weiträumig.
Und die nächste Station?
Prypiat, die Stadt der Atomkraftwerker. Zwei Tage nach der
Reaktorkatastrophe vor 25 Jahren wurde die Stadt evakuiert, man sagte den
49.000 Einwohnern, das sei nur für wenige Tage. Deshalb ließen sie auch
alles zurück. Prypjat war eine durch und durch sozialistische Stadt, und
das kann man noch heute besichtigen. In einer Sporthalle lassen sich noch
Spruchbänder zu Lenins Geburtstag entziffern, im Theatersaal gibt es welche
zum 60. Jahrestag der Sowjetunion. Die Schulbücher von 1986 sind noch da,
genauso wie die Schulaufsätze über die Bedeutung Lenins.
Klingt eher schaurig als attraktiv!
Na ja, die Côte dAzur ist es natürlich nicht. Aber wenn im Zimmer Nummer
427 des Hotels Prypiat plötzlich eine Birke aus dem Fußboden wächst, an der
Wohnzimmerwand ein Kalender von 1986 mit den eingetragenen Geburtstagen der
Familie hängt oder die Touristen in der Mittelschule auf tausende
Kindergasmasken stoßen, die auf dem Boden verteilt liegen - dann bekommen
sie schon ein Gefühl für die Katastrophe.
Und das ist nicht gefährlich?
Zur Abschreckung zeige ich der Reisegruppe gleich zum Anfang in Prypiat ein
Experiment. Normalerweise beträgt die Strahlung in den Häuserblocks, den
Polizeigebäuden oder Schwimmhallen maximal so um die 0,05 Millisievert. Und
dann gehe ich mit dem Geigerzähler auf Moos: Da wird der ganz verrückt,
heult auf, zeigt 1,2, bis 1,5 Millisievert. Moos absorbiert Radioaktivität,
weshalb ich meinen Leuten immer dringend abrate, auf Moos zu treten.
Nach dem Besuch der Geisterstadt geht es zum "Mittagessen in der Kantine
des Atomkraftwerkes".
Viele stellen sich die Sperrzone um Tschernobyl tot und menschenleer vor.
Aber derzeit arbeiten hier noch 7.000 Leute, vor zehn Jahren waren es noch
über 10.000 und in den 90ern sogar noch deutlich mehr. Die Atomreaktoren
eins bis drei des Tschernobyl-Kraftwerkes arbeiteten ja weiter und
natürlich brauchen tausende Arbeiter auch eine gute Kantine.
Mittagessen 500 Meter vom havarierten Reaktor entfernt: Das klingt grotesk.
Fahren Sie mit den Touristen auch direkt bis an den Reaktor ran?
Natürlich! Dafür haben sie doch bezahlt!
Und das überleben die Touristen?
Garantiert genau so wie ihr Führer: In hundert Meter Entfernung zum
Sarkophag beträgt die Strahlung 0,4 bis 0,5 Millisievert pro Stunde. Und es
geht ja nur darum, einen Eindruck zu bekommen und ein paar Fotos zu
schießen: Nach 15 Minuten sind wir wieder weg.
Klingt alles ganz harmlos. Etwa so, als habe der Atomunfall 25 Jahre später
seine Schreckensmacht verloren. Übertreibt beispielsweise Greenpeace, wenn
sie vor den Atomgefahren warnen?
Die Stadt Tschernobyl ist genauso gereinigt worden wie die Straßen in der
Sperrzone. Das heißt aber noch lange nicht, dass es hier ungefährlich wäre:
Jenseits der viel befahrenen Straßen gibt es Gebiete, in die ich niemals
hineingehen würde - die Strahlung wäre lebensgefährlich. Den Job, den die
Arbeiter beim Bau der neuen Schutzhülle verrichten, würde ich zum Beispiel
niemals machen: Sie setzen sich stündlich 2 Millisievert aus - die
Jahresdosis für Kernkraftwerks-Mitarbeiter liegt bei 20.
Ausgerechnet zum 25. Tschernobyl-Jahrestag diskutiert die Ukraine den Plan
für neue Atomkraftwerke. Wie passt das zusammen?
Wir haben momentan 5 Atomkraftwerksstandorte in der Ukraine mit 10
Reaktoren. Und weil die Ukraine sehr viel Energie braucht, sollen demnächst
neue dazukommen. Uns ist bewusst, dass es keine Alternative zur Atomkraft
gibt: Die Ukraine ist ein rohstoffarmes Land.
Ein Standort, der diskutiert wird, wurde wiederholt von Erdstößen
erschüttert. Fukushima mahnt Sie nicht ein bisschen?
Der Tsunami und seine Folgen sind eine große Tragödie für Japan und eine
weitere Lektion für die Menschheit: Wenn man Atomkraft nutzen will, muss
man sie sicher machen. Unsichere Atomkraftwerke bergen immer ein
Restrisiko.
8 May 2011
## AUTOREN
Nick Reimer
## TAGS
Schwerpunkt Atomkraft
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