# taz.de -- Strahlendes Frankreich: Fest im Griff der Atomwirtschaft | |
> Im vergangenen Jahr haben sich in französischen AKWs über 1.000 | |
> Zwischenfälle ereignet. Doch die Atomkraft gehört seit General de Gaulle | |
> zur Staatsräson. | |
Bild: Das AKW Le Bugey liegt 40 Kilometer vor Lyon. Für eine Evakuierung der M… | |
PARIS taz | "Es wird ein 'vor Fukushima' und ein 'nach Fukushima' geben. | |
Nichts ist endgültig geregelt in Sachen Reaktorsicherheit. Die Atomkraft | |
ist für uns eine Schule der Bescheidenheit und der Herausforderung." Das | |
sind die Lehren, die Henri Proglio, Chef des Energiekonzerns EDF, auf | |
seiner ersten Pressekonferenz nach dem Bekanntwerden der Katastrophe von | |
Fukushima zieht. In einem auf Atomkraft eingestellten Land klingt das schon | |
fast kritisch oder einsichtig. Doch am breiten Konsens, dass die | |
Energieversorgung nicht ohne Kernkraft auskommen könne, ändert sich nichts. | |
Aus der Sicht der Verdrängungskünstler ging ja bisher alles gut - oder | |
zumindest fast. Laut der für die Sicherheit der Atomanlagen zuständigen | |
Autorité de sûreté nucléaire (ASN) haben sich in Frankreich im letzten Jahr | |
immerhin insgesamt 1.107 Zwischenfälle ereignet. Zum Glück nichts Schlimmes | |
- nur drei dieser Pannen mussten in Stufe zwei der siebenstufigen | |
internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse eingeordnet werden. | |
Zum Beispiel hatte im AKW Chinon ein Arbeiter mit bloßen Händen ein | |
radioaktives Teil angefasst. In der mit radioaktiven Strahlen arbeitenden | |
Fabrik Fleursmétal wurde ein kobalthaltiger Apparat beschädigt. Diese | |
Angaben machte die ASN vor einer parlamentarischen Kommission, die im | |
Kontext der Reaktorkatastrophe von Fukushima von den Verantwortlichen | |
wissen wollte, wie es um die Transparenz bei der Prävention nuklearer | |
Risiken bestellt ist. | |
Obwohl die Zustimmung zur Atomtechnologie in Frankreich bis heute weit | |
größer ist als in den Nachbarländern, macht sich gegenüber den | |
Beteuerungen, dass die französischen Anlagen sicher seien, Skepsis breit. | |
In einem Land, das fast 80 Prozent seiner Elektrizität aus 19 AKWs mit 58 | |
Reaktoren bezieht, hat die Katastrophe von Fukushima diese Zweifel | |
bestärkt. Das Misstrauen gegen die Informationspolitik der Atomindustrie | |
ist berechtigt. So hatte schon nach der Katastrophe von Tschernobyl 1986 | |
der damalige offizielle Verantwortliche für den Strahlenschutz, Professor | |
Pierre Pellerin, versichert, die radioaktive Wolke habe just vor den | |
französischen Grenzen Halt gemacht - eine Lüge im Interesse der staatlichen | |
Atommacht. | |
## Seit Tschernobyl hat sich nichts geändert | |
Seit Tschernobyl hat sich an der Vogel-Strauß-Politik nichts geändert, | |
meinen die Kernkraftgegner. Das Netzwerk Sortir du nucléaire, das einen | |
Ausstieg aus der Atomkraft fordert, hat eine Karte mit allen nuklearen | |
Standorten publiziert, die manchen Mitbürgern einen Schrecken einjagen | |
dürfte. Denn darauf sind nicht nur die bekannten AKWs und die Anlagen zur | |
Herstellung oder Wiederaufbereitung von Brennstäben eingezeichnet, sondern | |
auch viele mehr oder weniger verheimlichte Lagerplätze radioaktiver | |
Rückstände, Versuchslabore, diverse Industriewerke ziviler und | |
militärischer Art sowie auch eigentlich geheime Orte, an denen die | |
französische Force de frappe ihre Atombomben, Raketen und U-Boote | |
stationiert hat. Zumindest vermittelt diese Übersicht einen Eindruck davon, | |
wie die Atomtechnologie heute fast allgegenwärtig geworden ist. | |
Doch die erst 2006 gegründete ASN - im Unterschied zur früheren SCPRI, die | |
Pierre Pellerin unterstand - besteht auf ihrer Unabhängigkeit von der | |
staatlichen Atomindustrie. Und die ASN pocht darauf, dass in Frankreich | |
keine mit Japan vergleichbaren Erdbeben- oder Tsunamirisiken bestehen. Die | |
Sicherheitsvorkehrungen und die Katastrophenschutzpläne der AKWs | |
entsprechen demzufolge aber auch als geringer eingeschätzten Risiken. So | |
soll beispielsweise das bereits 1977 in Betrieb genommene AKW Fessenheim im | |
Elsass einem Erdbeben von 6,7 auf der Richterskala standhalten. Die | |
Sicherheitsnorm verlangt, dass die Belastungsgrenze um 0,5 Punkte über dem | |
stärksten bekannten seismischen Ereignis liegen muss. Das Erdbeben im | |
benachbarten Basel von 1356 wurde nachträglich auf eine Stärke von 6,2 | |
geschätzt - aufgrund von Angaben der mittelalterlichen Stadtchronisten. | |
Sind solche Vorgaben bei der Risikoeinschätzung noch ausreichend? Auch in | |
Fukushima war das Tsunamirisiko bekannt und beim Bau einkalkuliert worden, | |
doch die mögliche Wellenhöhe war deutlich unterschätzt worden. Im Rahmen | |
der von der EU angeordneten Stresstests muss auch dieser Bereich des zwar | |
Unwahrscheinlichen, aber Möglichen überprüft werden. | |
Auch wenn gewisse Risiken nicht vorhersehbar sind, besteht die | |
Notwendigkeit, die Intervention in einem Reaktor auch unter extremen | |
Bedingungen wie nach einer Explosion oder einer Kernschmelze vorzubereiten | |
und eine Evakuierung der Bevölkerung aus der Gefahrenzone zu planen. Das | |
ist wohl die zweite Lehre, welche aus der Tragödie von Fukushima zu ziehen | |
ist: Die Frage in einem Atomstaat wie Japan oder Frankreich ist nicht, ob | |
ein schwerer Reaktorunfall passieren kann oder wie wahrscheinlich er ist, | |
sondern, wie was getan wird, falls sich ein GAU ereignet. | |
Fukushima wird aufgrund der Messungen und zu erwartenden Folgeschäden neue | |
Hinweise liefern zur Frage, in welchem Umkreis die Anwohner | |
sicherheitshalber evakuiert oder die Zonen für unbewohnbar erklärt werden | |
müssen: in einem Radius von zehn, dreißig oder gar sechzig Kilometern? | |
## Für das Schlimmste nicht vorbereitet | |
"Frankreich ist für das Schlimmste nicht vorbereitet", urteilt das | |
Onlinemagazin [1][Slate.fr] nach einer detaillierten Analyse der für die 19 | |
französischen AKWs geltenden Katastrophenpläne. Diese müssten aufgrund der | |
Erkenntnisse aus Japan als überholt betrachtet werden. So sei in diesen | |
Katastrophenplänen vorgesehen, dass bei einem ernsten Zwischenfall in den | |
ersten 24 Stunden die Menschen im Umkreis von fünf bis zehn Kilometern | |
evakuiert und mit Jodtabletten versorgt würden. Bisher wurde das mit den | |
lediglich etwa 1.500 Anrainern des AKWs Gravelines im Norden des Landes | |
geübt. | |
Wie aber könnten solche Maßnahmen erfolgen, wenn der betroffene Umkreis | |
größer ist? Oder wenn ein Ballungsgebiet betroffen ist? Die Großstadt Lyon | |
mit mehr als einer Million Einwohnern liegt 35 Kilometer vom AKW Le Bugey | |
und 40 Kilometer von einem weiteren in Saint-Alban entfernt. Niemand hat je | |
eine Evakuierung einer solchen Stadt seriös ins Auge gefasst. | |
Marie-Pierre Comets, eine der ASN-Expertinnen, hielt jedoch bereits Mitte | |
März - die Reaktoren von Fukushima waren gerade außer Kontrolle geraten - | |
eine Räumung im Radius von 70 Kilometern für angebracht. Was dies für | |
Frankreich bedeuten würde, kann sich nun jeder mit einem Zirkel auf der | |
erwähnten Karte von Sortir du nucléaire klarmachen. | |
Dennoch stehen die französischen Grünen mit ihrer Forderung nach einer | |
Volksabstimmung über einen Ausstieg aus der Atomkraft in 25 bis 30 Jahren | |
bisher politisch allein da. Die ebenfalls oppositionellen Sozialisten | |
erwägen nur, etwas weniger stark auf Atomkraft zu setzen und schneller | |
alternative Energiequellen zu entwickeln. Vor allem in den siebziger Jahren | |
wurde der Bau von Atomkraftwerken vorangetrieben, weil Frankreich arm an | |
fossilen Brennstoffen ist. Das hat ökonomische Sachzwänge geschaffen, die | |
keine Partei ignorieren kann. Das erklärt auch die weiterhin erstaunlich | |
breite Akzeptanz der Kernenergie in Frankreich. | |
## Atomkraft war eine politische Entscheidung | |
Die Nutzung der Kernkraft war eine politische Entscheidung. General de | |
Gaulle ordnete die Gründung des Atomenergiekommissariats (CEA) an, das bis | |
heute wie ein Staat im Staate die Geschicke der zivilen und militärischen | |
Atomtechnologie bestimmt. Atomkraftwerke und die Atombombe kamen in | |
Frankreich als Zwillinge zur Welt: Das Land strebte unter de Gaulle nach | |
Unabhängigkeit und nach Selbstständigkeit in der Energieversorgung. Seine | |
Nachfolger verfolgen dieses Ziel weiter. Hinzu kommt, dass die | |
Gewerkschaften Atomenergie wegen der Arbeitsplätze und der Exporte | |
ebenfalls zur Errungenschaft erklärten. | |
Wer an der Kernkraft rüttelt, vergreift sich an den Interessen Frankreichs. | |
Ein völliger Verzicht auf Kernkraft oder auch nur ein Moratorium bleiben | |
tabu. Bei einem Aktionstag gegen die Atomenergie demonstrierten im März in | |
der Nähe von Fessenheim rund 10.000 Gegner, vorwiegend aus Deutschland und | |
der Schweiz. An einer parallelen Kundgebung in Paris nahmen nur einige | |
Hundert Leute teil. | |
Wie die nukleare Rüstung unterliegt auch die industrielle Nutzung der | |
Kernenergie der Geheimhaltung. Atomgegner, die interne Dokumente über | |
Sicherheitsprobleme veröffentlichten, wurden wegen Verletzung militärischer | |
Geheimnisse verurteilt. Die alle aus derselben Kaderschmiede stammenden | |
staatlichen Ingenieure des CEA wachten bisher erfolgreich über jeden | |
Einmischungsversuch der Privatwirtschaft. "Wenn aber dieselbe Hand leitet | |
und kontrolliert, ist das nicht gerade beruhigend. Man darf die Debatte | |
über die Zukunft der Energie nicht allein den Technikern überlassen", gibt | |
der sozialistische Stadtpräsident von Grenoble, Michel Destot, zu bedenken. | |
Er weiß, wovon er spricht, er gehörte selber zu diesem Insiderkreis der | |
CEA-Ingenieure - lange vor Fukushima. | |
27 Apr 2011 | |
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## AUTOREN | |
Rudolf Balmer | |
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