# taz.de -- Proteste in Spanien: Die Bewegung wird dezentral | |
> Auf Stadtteilversammlungen diskutieren die Protestierenden über ihr | |
> weiteres Vorgehen. Derweil drohen die Behörden, den zentralen Madrider | |
> Platz Puerta del Sol zu räumen. | |
Bild: Lautlose Zustimmung oder Ablehnung: Redner und Publikum in Madrid. | |
MADRID taz | "So etwas habe ich noch nie gesehen", sagt ein älterer Mann | |
und setzt sich zu den anderen auf den Boden. Rund 600 Menschen aller | |
Altersgruppen waren am Samstag pünktlich um 12 Uhr auf einem Platz in | |
Lavapiés, dem Herzen des alten Madrid, zur "Volksversammlung" gekommen. | |
Keinen Kilometer entfernt hatten sich weitere 500 Menschen eingefunden. | |
Noch ein Stück weiter 600, im Arbeiterviertel Vallecas weit über 1.000. | |
Die Liste umfasst 140 Stadtteile, Vororte und Dörfer der Region. "Die | |
Bewegung ist in den Stadtteilen angekommen", stellt eine Sprecherin im | |
Protestcamp auf dem zentralen Platz Puerta del Sol zufrieden fest. Wie | |
viele andere möchte sie nicht mit einer Namensnennung aus der Menge der | |
Protestierenden hervorgehoben werden. | |
Seit der Platz im Herzen Madrids vor zwei Wochen nach einer | |
Großdemonstration unter dem Motto "Echte Demokratie Jetzt!" besetzt wurde, | |
arbeitet die junge Frau in der "Kommission Ausweitung". Jetzt sitzt sie vor | |
dem Computer und trägt die Früchte ihres Engagements ein. "30 Stadtteile | |
haben ihre Daten bisher übermittelt. Insgesamt waren dort 15.000 Menschen", | |
sagt sie. 25.000 bis 30.000 oder mehr könnten es am Ende gewesen sein. | |
"Nicht bei einer Demonstration, sondern um zu diskutieren und zu planen, | |
wie es weitergeht", sagt einer ihrer Kollegen. | |
## Gebärdensprache statt Applaus | |
"Das ist neu für uns alle", begann die Moderatorin in Lavapiés und | |
erklärte, was in Sol zum allabendlichen Ritual der "Empörten" gehört: Die | |
Versammelten bedienen sich bei der Reaktion auf Redebeiträge der | |
Gebärdensprache. Statt zu applaudieren, heben sie die Arme und bewegen die | |
Hände, die Arme zum X gekreuzt bedeutet "Nein". Und wenn die Arme wie eine | |
Mühle kreisen, ist dies das Zeichen für "am Thema vorbei", "wurde schon | |
gesagt" oder "abtreten!". | |
Es funktioniert. Tausende hören zu, Dutzende kommen in kürzester Zeit zu | |
Wort. Einigungen werden gefunden, ohne Wortführer und ohne hitzige | |
Debatten. Es herrscht eine ungewohnte Ruhe. Auf diese Art wurden in Sol | |
erste politische Nahziele vereinbart. Eine Reform des Wahlrechtes, das | |
große Parteien bevorteilt, sowie der Kampf gegen die Korruption stehen ganz | |
oben. Eine Liste von wirtschaftlichen und sozialen Forderungen wird in den | |
nächsten Tagen folgen. | |
In Lavapiés war viel von Stärke die Rede. Vom Symbol Puerta del Sol, ohne | |
das die Bewegung, die sich den Namen 15M - nach dem 15. Mai, an dem alles | |
begann - gegeben hat, nie so groß geworden wäre. Aber es war auch den | |
meisten klar, dass das Camp nicht unbefristet aufrechterhalten werden kann. | |
"Zwei Wochen ununterbrochen auf dem Platz, das ist hart", mahnt ein | |
Teilnehmer. | |
## Händlerverbände wollen Camp auflösen lassen | |
Andere reden von den Drohungen aus der Madrider Regionalregierung und dem | |
spanischen Innenministerium, den Platz in den nächsten Tagen zu räumen. | |
Stadtverwaltung und Händlerverbände machen seit Tagen Stimmung. Die | |
Verkäufe gingen um 70 Prozent zurück, 1.500 Arbeitsplätze seien durch das | |
Camp verloren gegangen, lauten die Zahlen, die vor Ort niemand bestätigen | |
kann. | |
"Wir müssen uns aus einer Position der Stärke zurückziehen, damit die | |
Bewegung auch nach Sol weitergeht", wirft ein anderer ein. Szenarien werden | |
diskutiert. Eine großes Fest, von dem aus alle mit Transparenten und | |
Material des Camps in ihren Stadtteil ziehen, ist eine der Ideen. "Und | |
jeden 15. eines Monats in Sol", wirft jemand ein. "Die ständige Drohung | |
wiederzukommen, wenn wir nichts erreichen", fügt jemand hinzu. | |
Am Sonntag wurden die Ergebnisse aus den Stadtteilen und Gemeinden | |
zusammengetragen. Die Diskussion war überall ähnlich verlaufen. Ob, wie und | |
wann der Rückzug angetreten werden soll, sollte die Vollversammlung am | |
Abend auf der Puerta del Sol beschließen. Tausende wurden erwartet. Und | |
nächsten Samstag werden sich die Plätze in den Vierteln und Gemeinden | |
erneut füllen. | |
Das ganze Wochenende über kamen Tausende Menschen zur Puerta del Sol, um | |
sich zu informieren, zu diskutieren oder um einfach nur Erinnerungsfotos zu | |
schießen. Die Gespräche standen unter dem Eindruck der gescheiterten | |
Räumung des Camps in Barcelona am Freitag. Im Fernsehen und im Internet | |
waren Bilder zu sehen "wie seit der Franco-Diktatur nicht mehr", so die | |
Meinung vieler. Die katalanische Autonomiepolizei prügelte wie besessen auf | |
friedlich auf dem Boden sitzende Menschen ein. Über 100 zum Teil | |
Schwerverletzte waren nach dem "wohlbesonnenen Polizeieinsatz" - so die | |
nationalistische Autonomieregierung - zu bedauern. Bei einer spontanen | |
Großkundgebung wurde das Camp erneut errichtet. | |
29 May 2011 | |
## AUTOREN | |
Reiner Wandler | |
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