# taz.de -- Debatte Proteste in Spanien: Stunde der Selbstkritik | |
> Das einstige Boomland ist am Ende. Eine Neugründung muss ähnlich | |
> grundlegend sein wie der demokratische Wandel nach der Franco-Diktatur. | |
Bild: Reagiere! Graffiti in Madrid. | |
Das hier ist Demokratie und nicht das, was in Sol passiert!" So lautete | |
einer der Sprüche, die Anhänger der konservativen Volkspartei (Partido | |
Popular, PP) nach ihrem Sieg bei den spanischen Regional- und | |
Kommunalwahlen am vergangenen Sonntag zum Besten gaben. | |
Die Konservativen stellten damit die vermeintliche Überlegenheit der PP, | |
die bei den Kommunalwahlen über 2 Millionen Stimmen mehr als die | |
sozialdemokratische PSOE des amtierenden Präsidenten Zapatero erhielt, | |
gegenüber den Demonstrationen, Besetzungen und Bürgerbewegungen heraus, die | |
spontan am vergangenen 15. Mai mithilfe sozialer Netzwerke entstanden | |
waren: eine Bewegung, die Versammlungen im ganzen Land abhält, deren Herz | |
aber auf dem zentralen Platz Puerta de Sol in Madrid schlägt. Dort werden | |
hunderte über das System empörte Bürger bis zum nächsten Sonntag ausharren | |
- mindestens. | |
## Parteien Teil des Problems | |
Aber die Wähler der Volkspartei täuschen sich, wenn sie glauben, die | |
konservative Wahlalternative habe tatsächlich Lösungen anzubieten für die | |
zentralen Probleme, mit denen Spanien - wie auch Europa und Deutschland - | |
kämpft. Hauptauslöser der Proteste ist die sich zuspitzende | |
Wirtschaftskrise. Diese Krise hat die offizielle Zahl der Arbeitslosen in | |
Spanien auf über 20 Prozent steigen lassen und zahlreiche produktive | |
Bereiche des Landes zerstört. | |
Es handelt sich um eine Krise des Systems, die zu 45 Prozent | |
Jugendarbeitslosenquote, zu Lohnkürzungen, einer Anhebung des Rentenalters, | |
Beschneidung der ohnehin bescheidenen staatlichen Sozialleistungen sowie zu | |
Wohnungsenteignungen von 300.000 Familien geführt hat. Unterdessen | |
verzeichnen die 35 führenden Firmen des spanischen Aktienindex Ibex | |
Rekordgewinne. | |
Die Wähler der PP täuschen sich, weil ihre Wahlentscheidung Teil des | |
Problems und nicht der Lösung ist. Die konservative Partei war Träger und | |
Motor jenes Wirtschaftsmodells, das mit der internationalen | |
Finanzspekulation die spanische Wirtschaft an den Rand des Abgrundes | |
gebracht hat. Kennzeichen dieser Krise sind der Boom des Immobiliensektors, | |
die unzureichenden Investitionen in Forschung, Entwicklung und Bildung, die | |
geringe oder ganz fehlende Kontrolle bei der Kreditvergabe sowie die | |
Verschwendung von öffentlichen Geldern für gigantische Bauprojekte. | |
Die PP hat zwar bei den letzten Wahlen gewonnen, und sehr wahrscheinlich | |
wird sie sich dank des Versprechens, Millionen neue Arbeitsplätze zu | |
schaffen, auch bei den kommenden Parlamentswahlen durchsetzen; aber die | |
Konservativen erklären nicht, wie sie das schaffen wollen. Denn an die | |
alten neoliberalen Rezepte glauben sie nicht mal mehr selbst. | |
## Was ist Wohlstand? | |
Spaniens politisches System und seine Institutionen leiden an einem | |
Demokratiedefizit. Das fängt bei der Korruption an, die die Legitimität | |
vieler gewählter Vertreter in den Gemeinden und den Landesregierungen | |
untergräbt: Auf den geschlossenen Listen der größten Parteien für die | |
Wahlen am vergangenen Sonntag standen mehr als 100 Kandidaten, die in | |
Korruptionsprozesse verwickelt sind. | |
Dazu kommt das aktuelle Wahlgesetz, Produkt der vielgelobten spanischen | |
"Transición" - des Übergangs von der Franco-Diktatur zur Demokratie - und | |
der Verfassung von 1978, die die großen Parteien begünstigt. Vor 40 Jahren | |
brauchte man starke und stabile Regierungen, um den Terrorismus von linken | |
und rechten Gruppierungen zu überstehen. Damals rettete dieses Wahlgesetz | |
vielleicht die Demokratie. Heute erstickt es sie. | |
Schließlich hat der spanische Staat schlicht über seine Verhältnisse | |
gelebt. Die Verwaltung hat mehr Geld ausgegeben, als da war, und | |
öffentliche Gelder falsch investiert. Aber auch die Bürger haben mehr | |
Schulden gemacht, als sie zurückzahlen können. Es ist die Stunde der | |
Selbstkritik: Die Spanier haben sich auf ein Wirtschaftsmodell eingelassen, | |
das nur eine Illusion von Wohlstand war, das vielmehr - mit Gabriel García | |
Márquez gesprochen - der Chronik eines angekündigten Todes ähnelte. | |
Denn Wohlstand heißt nicht, sich alle vier Jahre ein neues Auto oder auf | |
Kredit völlig überteuerte Apartments zu kaufen; Wohlstand heißt, dass die | |
Menschen würdevoll von ihrer Arbeit leben können, Zugang zu einer | |
erschwinglichen Wohnung sowie zu unverzichtbaren öffentlichen Gütern wie | |
Bildung und Gesundheit haben. Die von den Machthabern in den letzten | |
Jahrzehnten geförderte Konsumgesellschaft hat die Quittung für ihr | |
Verhalten bekommen. Denn jetzt sind es die mittleren und unteren | |
Einkommensschichten, die den Preis für die enorme Verschuldung zahlen | |
müssen. | |
## Neue Transición | |
Vor Kurzem wurden die Zahlen veröffentlicht: Die spanischen Gemeinden | |
schulden kleinen und mittelständischen Unternehmen, die mehr als 4 | |
Millionen Menschen beschäftigen, 35 Milliarden Euro. Wenn sich die | |
schlimmsten Vorhersagen erfüllen, wird dieser Schuldenberg tausende Firmen | |
in die Insolvenz treiben, was die Arbeitslosenzahlen noch einmal auf ein | |
schwer erträgliches Niveau heben würde. | |
Die beiden großen Parteien haben es bisher in stillem Einvernehmen | |
vermieden, dies im Wahlkampf zu thematisieren. Nur die pessimistischsten | |
Wirtschaftswissenschaftler wagen, eine Arbeitslosenquote von über 30 | |
Prozent vorherzusagen. Erst wenn es so weit ist, werden die Wähler der PP | |
endlich merken, dass ihre Entscheidung ein Fehler war. | |
Spanien braucht eine neue Demokratie, eine zweite "Transición". Mit den | |
beiden traditionellen Volksparteien scheint das unmöglich. So erklärt sich | |
die spontane Reaktion von hunderttausenden von Menschen, die auf die Straße | |
gingen, um wahre Demokratie einzufordern. Diese noch außerparlamentarische | |
Opposition sollte Bürger und Politiker zum Nachdenken bringen. Sie müssen | |
ihre Rolle in einer schlechten parlamentarischen Demokratie wie der | |
spanischen überdenken und aktiv am Wandlungsprozess teilnehmen. | |
Bisher weiß noch niemand, welches Ausmaß diese friedliche Revolution | |
annehmen wird, welche Ziele sie erreichen kann. Nur eins ist klar: Spanien | |
wird nie mehr sein wie zuvor. Mit dem 15. Mai hat sich etwas verändert. Für | |
immer. | |
26 May 2011 | |
## AUTOREN | |
Andreu Jerez | |
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