Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Stuttgart 21: "Regierung muss die Bahn schützen"
> Der Ausgang des S21-Verfahrens sei offen, sagt die Grüne Gisela Erler. In
> der neuen Landesregierung Baden-Württembergs ist sie zuständig für
> Bürgerbeteiligung und Zivilgesellschaft.
Bild: Winfried Kretschmann muss zwischen Regierung und Bahnhofsgegnern vermitte…
taz: Frau Erler, am Stuttgarter Bahnhof rollen wieder die Bagger und die
Wutbürger gehen auf die Barrikaden. Sie haben gerade den Posten als
Staatsrätin für Bürgerbeteiligung und Zivilgesellschaft der neuen
Landesregierung angetreten. Übernehmen Sie nun die Schlichtung bei
Stuttgart 21?
Gisela Erler: Nein, bei Stuttgart 21 wird keine weitere Schlichterin
gebraucht, da sind schon sehr viele Leute an der Konfliktlösung beteiligt.
Ich bringe mich aber im Hintergrund in die Überlegungen ein, wie es
weitergehen kann.
Wie sollte es denn weitergehen?
Der Protest ist natürlich wichtig. Genau wie Winfried Kretschmann verlange
ich aber, dass er zivil bleibt und auf Argumenten aufbaut. Sollte der
Stresstest kein eindeutiges Ergebnis bringen, werden manche S-21-Gegner
wieder verstärkt demonstrieren - solange das friedlich abläuft, aus meiner
Sicht auch zu Recht.
Was, wenn die Bahn dennoch weiter baut?
Unstrittig ist, dass die Regierung die Bahn dann schützen muss. Als
Regierung haben wir gar keine andere Möglichkeit. Im Moment können wir die
Bahn nur dazu ermahnen, sich an das zu halten, was selbst die CDU im
Wahlkampf plakatiert hatte: Ja zum Schlichterspruch. Und wir können uns
Szenarien für die Zeit nach dem Stresstest überlegen.
Gibt es da schon konkretere Pläne?
Ich habe darüber auch mit Heiner Geißler geredet, und er riet mir: Das
Wichtigste sei, dass alle Schritte, die wir als Regierung jetzt
unternehmen, immer transparent sind für die Bürger und dass die Betroffenen
gut eingebunden werden. Wir müssen aber auch ehrlich sagen: Der Ausgang des
Verfahrens ist offen. Diese Regierung kann nicht garantieren, dass kein
Bahnhof gebaut wird.
Wenn Ministerpräsident Kretschmann dieser Tage über Bürgerbeteiligung
spricht, dann klingt das zuweilen nach Neuerfindung der Demokratie. Welche
Ressourcen haben Sie in der Staatskanzlei für ein so ehrgeiziges Projekt
zur Verfügung?
Mir stehen erst mal fünf Leute zur Seite.
Mehr nicht?
Bürgerbeteiligung ist ein Querschnittsthema, das alle Ressorts betrifft.
Entscheidend für uns ist, dass wir gut mit den anderen Ministerien
zusammenarbeiten. Alle Ressorts müssen sich auf diesem Gebiet mit mir
abstimmen und selbst auch Geld und Arbeitskraft in dieses Thema
investieren.
Ihre Benennung war eine Überraschung: Eine Familienpolitikerin und
Kita-Unternehmerin aus Berlin wird Bürgerbeteiligungsbeauftragte in
Stuttgart. Wie kam Kretschmann ausgerechnet auf Sie?
Ich bin politisch schon sehr lange mit Winfried Kretschmann verbunden. Wir
waren in den 80er Jahren zusammen in der ökolibertären Fraktion der Grünen
aktiv. Wir sagten: Öko wird nur funktionieren im Rahmen einer
Marktwirtschaft - das war damals eine echte Minderheitenposition in der
Partei.
Aber was qualifiziert Sie konkret für den neuen Posten?
Ich habe über Jahrzehnte Projekte betreut, die sich vorrangig mit
bürgerschaftlichem Engagement befasst haben. Zum Beispiel habe ich das
Bundesfamilienministerium bei seinem Aktionsprogramm Mehrgenerationenhäuser
beraten. Hierbei haben die Einbindung von Ehrenamtlichen und die
Aktivierung von Bürgern eine große Rolle gespielt. Diese Erfahrungen sind
sehr nützlich für meine neue Aufgabe.
Verstehen Sie sich nur als regierungsinterne Lobbyistin oder wollen Sie
auch draußen mit den Bürgern verhandeln?
Erst mal muss ich mich intern aufstellen. Ich rede einzeln mit allen
Ministerinnen und Ministern und wir schauen gemeinsam: Wo drohen Konflikte?
Wir machen also eine Landkarte der interessanten, vor allem auch der
unpopulären Themen. Dann überlegen wir, wie wir für drohende Konflikte gute
Lösungen finden könnten. Demnächst werde ich sehr viel rausgehen. Unser
Postkasten ist jeden Tag voll mit Briefen von Bürgern, die bitten: Kommen
Sie mal vorbei! Nehmen Sie dazu Stellung!
Welche Themen kommen da auf Sie zu?
Wir werden es sehr rasch mit einem exemplarischen Konflikt zu tun haben:
beim Bau neuer Windräder.
Die Landesregierung will den Anteil der Windkraft verzehnfachen.
Und an vielen Orten werden Menschen sagen: Das ist ja gut und schön mit der
Abkehr von der Atomkraft, aber bitte keine Windräder vor unserer Haustür.
Was machen Sie dann mit denen?
In so einer Situation ist es wichtig, dass ein Projekt erst mal
grundsätzlich akzeptiert wird. Ich glaube, das wird bei der Energiewende
kein großes Problem sein. Zweitens muss für die Leute klar sein, nach
welchen Kriterien die Windkraft-Standorte erweitert oder neu ausgewählt
werden.
Dann werden die Bürger brav das Windrad nebenan akzeptieren?
Gerade in abgelegenen Gebieten haben Bauern oft große
Überlebensschwierigkeiten. Dort können erneuerbare Energien eine
zusätzliche Verdienstmöglichkeit sein. Wir müssen versuchen, die
Investorentätigkeit zu lenken und die Menschen über Genossenschaften oder
Bürgerwindräder an den Gewinnen zu beteiligen. Das kann eine sinnvolle
Deeskalationsstrategie sein. Am Schluss wird ein Windrad aber natürlich
trotzdem häufig dort stehen, wo der Nachbar nicht erfreut ist.
Das klingt, als seien Sie von Ihren Ansätzen selbst nicht ganz überzeugt.
Doch. Wir können es aber nie allen recht machen. Wichtig ist, dass sich im
Vorfeld möglichst viele Akteure einbringen, so dass die Standortfrage am
Ende als fair empfunden wird.
Fürchten Sie nicht, dass die Verwaltung gar keine Lust hat auf so viel
Bürgerbeteiligung?
Im Gegenteil. Vielleicht ist Baden-Württemberg das beste Land für solche
Experimente. Hier wird seit Jahrzehnten alles rund ums Ehrenamt stark
gefördert. Auch im Staatsministerium in Stuttgart, von dem man vermuten
könnte, es sei ein schwarzer Bunker, erlebe ich eine große Offenheit. Da
sitzen hochmotivierte Beamte, die vielleicht nicht gerade auf eine grüne
Regierung gewartet haben - aber doch sehr offen sind für solche Fragen.
Die Bürger interessieren sich oft erst für große Bauvorhaben, wenn es quasi
schon zu spät ist.
Ja, die Leute wachen häufig erst auf, wenn die Bagger kommen. Schuld daran
sind auch die langwierigen Verfahren. Es müsste deshalb immer eine Vorphase
geben, in der grundsätzlich diskutiert wird. Zum Beispiel: Braucht man
wirklich so viel Energie oder ändern wir unseren Lebensstil? Wenn dann die
konkreten Bauverfahren beginnen, muss man mit den Betroffenen in den Dialog
treten - und zwar öffentlicher als bisher. Gleichzeitig müssen die
Verfahren insgesamt beschleunigt werden.
Sie wollen mehr diskutieren und zugleich schneller umsetzen: Wie passt das
zusammen?
Heiner Geißler sagt zu Recht, Bürgerbeteiligung beschleunigt die Verfahren.
Es ist ein Irrtum zu glauben, dass man Großprojekte still planen und dann
schnell durchziehen kann. Gerade große Verkehrsvorhaben scheinen oft
schlüssig geplant - und scheitern dann im späteren Stadium. Aber natürlich
muss die Bevölkerung auch lernen, dass solche Verfahren nicht willkürlich
laufen und man nicht zu jedem Zeitpunkt alles neu aufmachen kann.
Sie berufen sich als Grüne auffällig oft auf Heiner Geißler. Ist der
CDU-Mann Ihr Vorbild?
Nein. Aber es war ja neu, einen so eskalierten Konflikt wie Stuttgart 21
mit einer Schlichtung anzugehen. Der Fall macht bestimmte Grundprinzipien
deutlich und daher ist Heiner Geißler für uns sicher ein guter Ratgeber auf
diesem Gebiet.
Am kommenden Wochenende soll der runde Tisch zum umstrittenen
Pumpspeicherkraftwerk für Ökostrom in Atdorf beginnen. Welche Rolle werden
Sie dort spielen?
Wir möchten dieses Projekt wissenschaftlich begleiten lassen und sehen,
inwiefern die Leute mit so einem Verfahren klüger und friedlicher werden.
Mein Ziel ist es, in den nächsten fünf Jahren die Wissensbasis über
Bürgerbeteiligung auszubauen: Was macht Erfolge leichter? Was macht sie
schwerer? Was sollte man gar nicht tun? Baden-Württemberg war mal führend
auf dem Gebiet der Bürgerbeteiligung, und ich glaube, es kann hier auch
wieder eine Führungsrolle übernehmen. Schließlich gibt es einen
Grundkonses: Die Demokratie wird verhungern, wenn die Bürger nicht wieder
mehr zu sagen kriegen.
24 Jun 2011
## AUTOREN
A. Geisler
N. Michel
## TAGS
Schwerpunkt Stuttgart 21
Schwerpunkt Stuttgart 21
Schwerpunkt Stuttgart 21
Schwerpunkt Stuttgart 21
Schwerpunkt Stuttgart 21
Schwerpunkt Stuttgart 21
Schwerpunkt Überwachung
Schwerpunkt Stuttgart 21
Schwerpunkt Stuttgart 21
## ARTIKEL ZUM THEMA
Politologe über Bürgerbeteiligung: "Wutbürger sind normale Bürger"
Der Wuppertaler Politologe Hans J. Lietzmann über das Risiko politischer
Entscheidungen, Bürger als Experten und warum er den Begriff "Wutbürger"
zynisch findet.
Bahnhofsprojekt Stuttgart 21: Stresstest-Präsentation verschiebt sich
Etappensieg für die Gegner des Bahnhofsbaus in Stuttgart: Die Präsentation
des Stresstests wird um eine Woche verschoben. Die Gegner hatten sich mehr
Zeit zur Prüfung erbeten.
Magazin-Bericht zum Bahnhofsprojekt: Bahn soll S21-Kosten geschönt haben
Die Deutsche Bahn hat die Kosten für Stuttgart 21 intern deutlich höher
geschätzt als öffentlich dargestellt. Das berichtet der "Spiegel". Das
Bahnhofsprojekt hätte beendet werden müssen.
CDU fordert Rücktritt wegen Stuttgart 21: Minister tritt hin und her
Baden-Württembergs grüner Verkehrsminister laviert in Sachen Stresstest,
die CDU fordert seinen Rücktritt. Und Umweltverbände ärgern sich über die
Taktik der Bahn.
Kommentar Stuttgart 21: Letzte Hoffnung Volksbegehren
Für die Grünen gibt es nur noch eine Möglichkeit, aus dem
Stuttgart-21-Konflikt zu kommen: die Volksabstimmung. Ansonsten müssen sie
den Bahnhof bauen.
Bahnhofsprojekt "Stuttgart 21": Stress um Stresstest
Nachdem Details zum Stresstest durchgesickert sind, fordern die Grünen
einen unabhängigen Gutachter. Der Test sei nicht transparent gewesen. Die
Bahn weist die Vorwürfe zurück.
Bahnhofsprojekt "Stuttgart 21": Stresstest bestanden?
Der Stuttgarter Tiefbahnhof soll den Stresstest bestanden haben. Doch
Kritiker zweifeln am Ergebnis. Denn weder hat die Bahn die Gegner
eingebunden, noch das Verfahren transparent gemacht.
Handy-Datenaufzeichnung: Sonderfall Dresden?
Eine massenhafte Ausspähung wie in Dresden soll es bisher bei Großdemos
noch nicht gegeben haben. Das jedenfalls sagen die Ermittler.
Volksversammlung in Stuttgart: Verkehrsminister im Stresstest
Der grüne Verkehrsminister von Baden-Württemberg hat es nicht leicht. Bei
einer sogenannten "Volksversammlung" wurde er in Stuttgart heftig
angegangen.
Stuttgart 21-Proteste: Die Gegner sind zurück
Ein Polizist wird bei einer Demonstration von mehreren Gegnern verletzt.
Ein nicht tolerierbarer Gewaltakt - aber ein durchaus erklärbarer
Wutausbruch.
Kommentar Stuttgart 21: Vermittelbar bleiben
Die Bahnhofsgegner in Stuttgart stehen vor einem Dilemma. Sie protestieren
gegen eine Landesregierung, die eigentlich auf ihrer Seite steht.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.