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# taz.de -- Politologe über Bürgerbeteiligung: "Wutbürger sind normale Bürg…
> Der Wuppertaler Politologe Hans J. Lietzmann über das Risiko politischer
> Entscheidungen, Bürger als Experten und warum er den Begriff "Wutbürger"
> zynisch findet.
Bild: Wutbürger, mal lauter mal leiser: In Stuttgart eher lauter.
taz: Herr Lietzmann, warum reicht es den Bürgern nicht mehr, einfach nur
alle vier Jahre ihr Kreuzchen zu machen?
Hans J. Lietzmann: Ich erkläre mir das mit zwei Aspekten. Der erste liegt
in der gestiegenen Kompetenz. Wir haben ein Jahr für Jahr steigendes
Bildungsniveau und einen Jahr für Jahr besseren Zugang zu Informationen.
Dadurch ist das Beurteilungsvermögen unglaublich hoch. Der Streit um
Stuttgart 21 hat ja gezeigt, dass Bürgerinitiativen fachlich mit den
Experten spielend mithalten können.
Und was ist der zweite Aspekte?
Wir wissen inzwischen, dass politische Entscheidungen keine objektiven
Lösungen sind und oft einen offenen Ausgang haben. Solche riskanten
Entscheidungen können Experten allein nicht treffen.
Wieso das denn nicht? Das müssen Sie genauer erklären.
Nehmen wir doch zum Beispiel den Atomausstieg. Auch der ist mit Risiken
verbunden. Ob ich solch ein Risiko eingehen möchte, muss ich sehr
persönlich entscheiden. Oder nehmen wir das Beispiel Verkehrspolitik.
Einzelne Experten urteilen in der Regel eher nur über einen, zum Beispiel
den verkehrlichen, Aspekt, beachten dabei aber weniger die Umweltaspekte
oder die sozialen Auswirkungen.
Wenn die Fragen aber so komplex sind, ist es ja auch für den Bürger nicht
leicht, eine Antwort zu finden. Was verlangt eine stärkere Beteiligung dem
Bürger ab?
Klar, der Bürger muss sich sehr sorgfältig mit den verschiedenen Kriterien
auseinandersetzen und sich eine Expertise aneignen. Die Menschen sollen ja
nicht spontan, aus dem Stand heraus, entscheiden: "Finde ich gut" oder
"Finde ich nicht gut".
Damit übernehmen die Bürger auch eine größere Verantwortung. Glauben Sie,
dass den Leuten, die jetzt mehr Beteiligung fordern, diese neue
Verantwortung schon bewusst ist und sie auch bereit sind, diese zu
übernehmen?
Ob ihnen das bewusst ist, weiß ich nicht. Aber unsere Erfahrung zeigt, dass
wenn man ihnen die Verantwortung gibt, sie diese auch kompetent übernehmen.
Dabei entscheiden sie sehr gemeinwohl- und kompromissorientiert und
jenseits ihrer eigenen, kurzfristigen Interessen.
Beteiligung bedeutet nicht nur mehr Verantwortung, sondern auch viel
Einsatz. Werden die meisten nicht irgendwann die Nase voll davon haben?
Es gibt ja Überlegungen für dauerhafte Bürgerparlamente. Davon halte ich
nicht viel. Aber bei so spektakulären Entscheidungen wie etwa über einen
Bahnhofsneubau oder Stromtrassen wird es überhaupt kein Problem sein, Leute
zu mobilisieren, die sich intensiv und ausgiebig mit Experten beraten und
die Bürgerinteressen vertreten.
Wird der Wutbürger die Republik nachhaltig verändert haben oder handelt es
sich um eine Trendwelle, die bald wieder abebbt?
Demokratie verändert sich, seit es sie gibt. Wie das genau geschieht,
werden wir sehen. Im Übrigen finde ich es sehr zynisch, von Wutbürgern zu
reden. Wir beschweren uns ständig über Politikverdrossenheit und eine
Individualisierung der Gesellschaft. Die sogenannten Wutbürger sind aber
ganz normale, politisch engagierte Bürger, die genauso mal lauter und mal
leiser sind, wie die Parlamentarier in Debatten mal lauter und mal leiser
sind.
18 Sep 2011
## AUTOREN
Nadine Michel
## TAGS
Schwerpunkt Stuttgart 21
Schwerpunkt Stuttgart 21
Schwerpunkt Wahlen in Berlin
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